Vieles ist anders in der Nacht, in der sich Joe Biden erstmals als Staatsoberhaupt an beide Parlamentskammern in einer gemeinsamen Sitzung des US-Kongresses wandte. Ein Teil des Pomps, der diese alljährliche Zeremonie begleitet, fiel in diesem Jahr durch die Corona-Krise zwangsläufig aus. Statt voll besetzter Reihen wird der Präsident lediglich rund 200 über den Raum verteilte Gesetzgeber vor sich. Den Supreme Court wird nur Chief Justice John Roberts vertreten. Und hinter Biden nehmen erstmals in der Geschichte der USA zwei Frauen Platz: Vizepräsidentin Kamala Harris und Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses.
Doch Bidens Rede wird sich auch inhaltlich von denen seiner Vorgänger unterscheiden – das war nach Verlautbarungen des Weißen Hauses klar. Denn mit einem solch ambitionierten Sozialprogramm wie es dem 46. Präsidenten vorschwebt, traute sich seit Jahrzehnten kein US-Staatsoberhaupt mehr vor die Legislative. Nachdem er bereits ein 1,9 Billionen Dollar teures Rettungsprogramm durch den Kongress gebracht hat, das die schlimmsten Verwerfungen der Pandemie bekämpfen sollte, stellte Biden vor einigen Wochen ein riesiges Investitionspaket vor, dass die bröckelnde Infrastruktur des Landes wieder in Schuss bringen und zukunftsfest machen soll. Es sieht Ausgaben in Höhe von mehr als 2,2 Billionen Dollar vor.
Bei seiner Rede vor Repräsentantenhaus und Senat legt Biden jedoch noch einmal nach: Er will ein weiteres Gesetz, das das soziale Netz in den USA erheblich stärken soll. Der American Families Plan werde Millionen in Bildung investieren, so der Präsident. Frühkindliche Bildung soll gebührenfrei werden, gleiches gilt für Community Colleges – eine US-Hochschulform, die Amerikaner auf den Arbeitsmarkt vorbereitet oder einen Universitätsabschluss erleichtern. Das jüngst für ein Jahr eingeführte Kindergeld soll bis 2025 verlängert, ein Rechtsanspruch auf bezahlten Erziehungs- oder Pflegeurlaub eingeführt werden. All diese Maßnahmen sind ebenfalls nicht billig. Der Plan dürfte rund 1,8 Billionen Dollar kosten.
Gegenfinanzierung
Zur Gegenfinanzierung will Biden die Steuern erhöhen – für Unternehmen und Großverdiener. Auch die Kapitalertragssteuer soll deutlich steigen. Ob all diese Pläne es tatsächlich durch den Kongress schaffen, in dem Bidens Demokraten nur über hauchdünne Mehrheiten verfügen, ist alles andere als sicher. Und doch ist schon der Vorstoß historisch.
Seit Präsident Lyndon B. Johnson in den 1960er-Jahen lag kein derart ambitioniertes Sozialprogramm vor. Der Wahlsieg von Ronald Reagan 1980 läutete eine Ära der Deregulierung und des Wirtschaftsliberalismus ein. Das Ziel war es, den Staat aus möglichst vielen Bereichen des öffentlichen Lebens zurückzuziehen, Steuern möglichst zu senken. Selbst demokratische Präsidenten folgten dieser Maxime. Bill Clinton etwa erklärte die „Ära des Big Government“ für vorbei.
Angesichts der Verwerfungen durch Covid-19 hat sich die Einstellung gegenüber dem Staat aber in den USA ein gutes Stück weit verändert. Auch Steuererhöhungen, die lange als politischer Selbstmord galten, werden heute von einer Mehrheit in der Bevölkerung unterstützt. Überhaupt kann sich der Präsident bei seinen Vorhaben auf breite Zustimmung unter den Wählern stützen. Mehr als zwei Drittel der Amerikaner stützen laut Umfrage sein Infrastrukturpaket.
Von unserem Korrespondenten Julian Heißler aus Washington