"Großbritannien hat manchmal die Fähigkeit, aus einer absoluten Katastrophe gestärkt herauszukommen", erklärte uns die britische Politologin Melanie Sully kürzlich im Interview. Am Beginn der Pandemie im Vorjahr hatte das absolute Chaos geherrscht.
Das Land ging in die Knie, das britische Gesundheitswesen war nach der ersten Infektionswelle bereits am Ende. Danach sei der britischen Regierung klar geworden: "Wir können diese Pandemie nicht mehr mit normalen Methoden bekämpfen. Der Kampf gegen die Pandemie wurde ein militärischer Einsatz. Das Land war im Kriegsmodus, eine Taskforce wurde gegründet, die rund um die Uhr arbeitete", fasste Melanie Sully zusammen. Denn Boris Johnsons Auftrag sei klar gewesen: "Keine Toten mehr!"
Mit rund 127.000 Todesfällen ist Großbritannien bis jetzt das am schwersten von der Pandemie betroffene Land Europas. Wegen seines Umgangs mit der Krise war Premierminister Boris Johnson lange Zeit scharf kritisiert worden. Angesichts der erfolgreichen Impfkampagne stieg seine Popularität zuletzt jedoch wieder deutlich.
Serie unangenehmer Enthüllungen
Doch jetzt ist der britische Premier wieder in der Bredouille: Eine Serie an unangenehmen Enthüllungen setzt sich für Johnson fort: Am Montag sorgte ein angebliches Zitat Johnsons vom Herbst für Wirbel. „Keinen verdammten Lockdown mehr – sollen sich doch die Leichen zu Tausenden stapeln“, soll er Berichten zufolge gesagt haben. Johnson erklärte indes, er habe nichts dergleichen gesagt.
Kommentar
Zunächst hatte die „Daily Mail“ unter Berufung auf Quellen aus Regierungskreisen darüber berichtet. Später legten auch die TV-Sender BBC und ITV unter Berufung auf eigene Quellen nach. Johnson habe den Satz klar belegbar gesagt, berichtete BBC.
Der Fraktionsführer der schottischen SNP im britischen Unterhaus, Ian Blackford, bezeichnete die angebliche Aussage Johnsons als „zutiefst abscheulich“. Sollten die Berichte tatsächlich zutreffen, müsse der Premier zurücktreten, schrieb er bei Twitter. Johnson müsse dem Parlament zu den „schockierenden Behauptungen“ und den anderen Skandalen seiner Regierung Rede und Antwort stehen, forderte Blackford weiter. Auch Labour-Chef und Oppositionsführer Keir Starmer verlangte eine umfassende Untersuchung aller Anschuldigungen.
Auch Angehörige von Menschen, die an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung verstorben waren, meldeten sich indes zu Wort. Die angebliche Aussage des Premiers sei ein „Schlag in die Magengrube aller Trauernden“, werden diese vom britischen „Guardian“ zitiert.
Eine undichte Stelle
In britischen Medien tauchen seit Tagen immer wieder Insider-Informationen aus anonymer Quelle über angebliche Fehltritte des konservativen Premierministers auf. Einmal geht es um Steuererleichterungen, die Unternehmern wie James Dyson versprochen wurden, ein andermal um die horrend teure Renovierung der Privatwohnung Johnsons, die nicht ganz sauber mit Spendengeldern finanziert worden sein soll.
Der Regierungsapparat hat als "geschwätzige Ratte" Johnsons früheren Topberater Dominic Cummings im Visier, der im Vorjahr im Streit gegangen war. Mitten in der Endphase der Brexit-Verhandlungen mit der EU warf Cummings vorigen November das Handtuch. Boris Johnsons Chefideologe war einer der Architekten der Austrittskampagne. Die BBC berichtete unter Berufung auf einen Insider, dass Cummings mit seinem Abgang einem Rausschmiss zuvorgekommen war. Der 49-Jährige gehörte zu den mächtigen Brexiteers, die den EU-Austritt Großbritanniens für eine historische Errungenschaft halten. Cummings hatte maßgeblich zum Aufstieg Johnsons beigetragen und genoss dessen Vertrauen. Er war der Mann, auf den der britische Premier keinesfalls verzichten wollte. Auch nicht im vorigen Frühling, als Cummings beim Brechen der Coronaregeln erwischt wurde.
Nach dem Studium in Oxford hielt sich Dominic Cummings für drei Jahre von 1994 bis 1997 in Russland auf und versuchte unter anderem, eine Fluggesellschaft aufzubauen, die Samara, Russlands sechstgrößte Stadt, mit Wien verbinden sollte. Cummings spricht fließend Russisch.
Von Dominic Cummings stammt der Slogan: „Get Brexit done“, und er war 2016 auch für jenen roten Bus verantwortlich, der durch London kurvte und auf dem der Satz stand, der übersetzt lautete: „Wir schicken 350 Millionen Pfund pro Woche nach Brüssel. Lasst uns das Geld lieber für unser Gesundheitssystem nutzen.“ Auch wenn die 350 Millionen gelogen waren, hatten die Brexiteers damit, was sie wollten: die Mehrheit für den EU-Austritt.
Der frühere britische Premierminister David Cameron hatte schon früh und eindringlich vor Cummings gewarnt, denn dieser sei ein "Karrierepsychopath".
Johnson schätzte Cummings eine Zeitlang sehr, denn dieser wusste einfach sehr viel - und über jeden. "Er wird als ,loose cannon', als tickende Zeitbombe, gesehen, so jemanden will man nicht außerhalb des Teams haben", erklärte uns die britische Politologin Melanie Sully noch im Vorjahr. Mittlerweile scheint es, als könnte Cummings Johnson wirklich gefährlich werden. Allerdings hat der britische Premierminister schon öfters bewiesen, dass er ein Stehaufmännchen ist: Er ist der einzige Politiker im Königreich, den alle beim Vornamen nennen - Boris. „Er macht den Menschen bessere Laune. Selbst Leute, die ihn nicht gewählt haben, fangen an zu lächeln“, ist Boris Johnsons Biograf Andrew Gimson überzeugt. Ohne Zweifel, Bo-Jo ist ein Typ. Als er sich bei einem Interview vor seiner Haustür selbst aussperrte oder zwei kleine Großbritannien-Flaggen schwenkend auf einer Seilbahn hängen blieb und nach einer Leiter verlangte, hatte er die Lacher auf seiner Seite.
„Wenn Sie die Konservativen wählen, bekommt Ihre Frau größere Brüste, und Sie haben bessere Chancen auf einen BMW M3“, sagte Boris Johnson einmal in einem Tory-Wahlkampf. Der Mann, der kurzzeitig auch Journalist war, bei der „Times“ aber hinausgeworfen wurde, weil er ein Zitat eines Interviewpartners frei erfunden hatte, liefert immer neuen Stoff.
Vorbild Churchill
Boris Johnson ist eine schillernde Figur. Sein großes Vorbild ist Winston Churchill. Über den bedeutenden britischen Staatsmann des 20. Jahrhunderts, der Hitler Paroli bot und ohne den 1940 die Welt einen anderen Lauf genommen hätte, schrieb Boris Johnson das Buch „Der Churchill-Faktor“.
Fasziniert von Churchills Humor, Sprachwitz, Unkonventionalität und Abenteurertum, wurde es eine Liebeserklärung an den britischen Premier - und wohl auch an sich selbst, denn Johnson vergleicht sich gern mit Churchill, dem konservativen Rebellen, der klüger und witziger war als seine Konkurrenten im Spitzenfeld der Tories. Und dessen Schuhe für Boris Johnson denn doch einige Nummern zu groß sind.