Lange Reihen Fallschirmjäger mit blauen Feldmützen klettern in Transportflugzeuge, tarngrüne KAMAS-Lastwagen werden auf Eisenbahnanhänger verfrachtet, Panzer rollen in die offenen Bäuche der Landungsschiffe. Das russische Verteidigungsministerium demonstrierte gestern per Video Truppenabzug auf dem Luftweg, zu Land und zu Wasser.

Russland ist ganz offenbar dabei, die Streitkräfte, die es in den vergangenen Wochen auf der annektierten Halbinsel Krim und an der ukrainischen Ostgrenze konzentriert hat, zurückzuziehen. „Am 23. April haben die Streitkräfte des Südlichen Militärkreises und die Luftlandetruppen, die an den Alarmübungen beteiligt waren, den Rückmarsch in ihre Garnisonen begonnen“ heißt es in einer Verlautbarung des Ministeriums. Auch die beteiligten Einheiten des Westlichen Militärkreises sollen heimkehren, so Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Vortag.

Entspannung, aber keine Entwarnung

Damit sinkt nach Ansicht von Beobachtern die Gefahr einer großen russischen Militäraktion gegen die Ukraine, an deren Grenzen nach Angaben des ukrainischen Generalstabes 110.000 russische Soldaten mit Panzern und schweren Waffen aller Art versammelt waren. In Moskau wie in Kiew wird die Rücknahme dieser Streitmacht vor allem damit erklärt, dass der politische Dialog zwischen Russland und den USA wieder in Gang gekommen ist.

Kremlsprecher Dmitri Peskow allerdings verneinte gegenüber Journalisten jeden Zusammenhang. Truppenbewegungen auf dem eigenen Staatsgebiet stellten für niemanden eine Bedrohung dar. „Russland tut für die Ausbildung seiner Truppen das, was es für nötig hält.“

Dabei hatte Verteidigungsminister Schoigu bei der Ankündigung des Teilrückzugs anspielungsreich erklärt, sein Land reagiere „angemessen auf alle Veränderungen der Lage in der Nähe zu den russischen Grenzen.“ Russlands Staatsmedien melden ihrerseits seit Wochen ukrainische Truppenbewegungen an der Donbas-Front. Und der kremlnahe Moskauer Politologe Sergej Markow sagte, man habe nicht nur in der Region Rostow, sondern auch auf der Krim und in den Regionen Woronesch und Belgorod an der ukrainischen Nordostgrenze Streitkräfte massiert, für mögliche Schläge zur „Befreiung von Charkow, Odessa, Nikolajewsk, Saparoschje und so weiter.“ Was einer militärischen Eroberung eines Großteils der Ostukraine gleichkäme.

Dieses Drohszenario verliert nun an Wucht. „Die Verringerung der Truppen an unserer Grenze senkt die Spannung proportional“, twitterte der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj. Aus dem NATO-Hauptquartier in Brüssel hieß es, alle Schritte Russlands zur Deeskalation seien wichtig und seit Langem fällig. Aber man beobachte weiter aufmerksam die ungerechtfertigte Konzentration russischer Truppen „in der Ukraine und an ihren Grenzen“ – ein Hinweis auf die Anwesenheit russischer Berufsmilitärs in den ostukrainischen Rebellengebieten.

Nervenkrieg mit dem Westen

In Russland wird der Auf- und zumindest teilweise Wiederabmarsch der eigenen Streitkräfte als Abmürbungssieg im Nervenkrieg mit dem Westen gefeiert. Man habe gut ausgebildete und kampferprobte Einheiten versammelt, schreibt das Militärportal topwar.ru. „Stellen Sie sich vor, wenn statt eines Manövers das Kommando zu realen Kriegshandlungen ertönt. Wer wird imstande sein, solch einen Angriff aufzuhalten?“ Bei den westlichen Generälen herrsche Kopfzerbrechen und sogar Trauer.

Aus Moskauer Sicht zwang eine glänzende militärische Machtdemonstrationden Westen und Joe Biden persönlich an den Verhandlungstisch zurück.  Dagegen heißt es auf dem Kiewer Portal obozrevatel.ua, Putin sei angesichts der harten Reaktion der USA auf seinen Truppenaufmarsch „eingeknickt“. Auch Oleksij Melnyk, Sicherheitsexperte des Kiewer Rasumkow-Zentrums, hält die Rolle Washingtons für entscheidend. „Erst hat Joe Biden die Einsätze hochgetrieben, indem er die Frage, ob Putin ein Mörder sei, bejahte. Dann hat er mit seinem Telefonanruf, der Putin sehr gefreut hat, die Deeskalation eingeleitet. Und ihm mit dem Vorschlag zu einem Gipfeltreffen, die Möglichkeit gegeben, das Gesicht zu wahren.“

Aber die meisten Ukrainer betrachten Entwarnung als verfrüht. Putin ziehe seine Truppen nur ein bisschen zurück, behalte sich die Möglichkeit einer Provokation im Donbas vor, erklärt Serhij Harmasch, Unterhändler der Ukraine in der Donbas-Kontaktgruppe.

Noch ist unklar, ob sich wirklich alle aufmarschierten Einheiten wieder zurückziehen. Melnyk bezeichnet den russischen Truppenabzug so oder so als relativ. „Bei dem Manöver auf der Krim etwa probten Luftlandetruppen und Marineinfanteristen die Eroberung eines Brückenkopfes“. Um diese Truppen wieder an der ukrainischen Grenze in Stellung zu bringen, bedürfe es nur einiger Stunden, höchstens einiger Tage.