Das Menschenrechtsportal ovdinfo.org listete am frühen Abend für mehr als 80 Städte über 1.000 Festnahmen auf, darunter allein mehr als 300 in St. Petersburg. Nawalny ist seit drei Wochen im Hungerstreik, um so eine Behandlung von einem unabhängigen Arzt zu erwirken.
Vereinzelt gab es Berichte über Polizeigewalt gegen die friedlichen Demonstranten. Die Menschen riefen trotz Drohungen der Behörden zu Zehntausenden "Freiheit für Nawalny!" und forderten, dem schwer erkrankten 44-Jährigen ärztliche Hilfe zu leisten. Er klagt über Rückenschmerzen und Lähmungserscheinungen in den Gliedmaßen. Nach Angaben des russischen Strafvollzugs wird Nawalny auf einer Krankenstation im Straflager behandelt. Die Behörden sehen keine Gefahr für sein Leben.
Auch Nawalnys Frau Julia, sein Bruder Oleg und seine Mutter nahmen an den nicht erlaubten Aktionen in Moskau teil. Nawalnys enge Mitarbeiterinnen Ljubow Sobol und seine Sprecherin Kira Jarmysch wurden bereits Stunden vor den Protesten festgenommen. Jarmysch kam für zehn Tage in eine Arrestzelle, wie sie mitteilte. Der Grund der Festnahmen war zunächst nicht klar.
Behörden warnten vor Teilnahme
Die Behörden hatten davor gewarnt, an den Protesten teilzunehmen. In der russischen Hauptstadt waren im Zentrum Zehntausende Menschen auf den Beinen, um Nawalny zu unterstützen, wie unabhängige Beobachter sagten. Autos fuhren mit Hupkonzerten zur Unterstützung an den Demonstranten vorbei. Viele Demonstranten sagten, dass sie ihre Angst überwunden hätten und für Nawalny eintreten wollten. Die Polizei sprach von 6000 Teilnehmern.
In Sprechchören forderten die Menschen - wie in vielen Städten des Landes - auch den Rücktritt des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sie riefen "Putin - wor!" und "Putin, uchodi!" (Deutsch: Putin ist ein Dieb", "Putin, hau ab!"). Sie werfen dem Kremlchef eine Unterdrückung Andersdenkender sowie Korruption vor und riefen "Freiheit! Freiheit!"
Die Proteste hatten im flächenmäßig größten Land der Ende zunächst im äußersten Osten an der Pazifikküste begonnen. Auch in Sibirien gingen Tausende auf die Straße. In St. Petersburg, der Heimatstadt des Kremlchefs, riefen viele Menschen "Putin ist ein Mörder!", "Freiheit für politische Gefangene!" und "Ein Arzt für Nawalny!", wie der Internetfernsehsender Doschd zeigte. Nach Berichten des Kanals setzten dort Uniformierte auch Elektroschocker gegen friedliche Demonstranten ein.
Nawalny macht Putin verantwortlich für den Mordanschlag auf ihn im vergangenen August, als er in Sibirien mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok vergiftet wurde. Der Präsident weist die Vorwürfe zurück. Die russische Führung lehnt auch Ermittlungen in dem international verurteilten Verbrechen ab. Nawalny warf Putin wiederholt vor, er wolle ihn nun im Straflager töten - aus Rache, weil das Attentat gescheitert sei.
Kritik abgelehnt
Der Kreml hatte internationale Kritik am Umgang mit Nawalny als unzulässige Einmischung in Russlands innere Angelegenheiten abgelehnt. Auch für die medizinische Behandlung des Oppositionellen bezeichnete sich die Präsidialverwaltung als nicht zuständig und verwies an den Strafvollzug, der Nawalnys Zustand als "zufriedenstellend" einstufte.
In Genf verlangten Experten des UN-Menschenrechtsrats hingegen, Nawalny angesichts der "ernsten Gefahr" für seine Gesundheit zur Behandlung ins Ausland auszufliegen. Sie erinnerten daran, dass der Politiker nach dem Mordanschlag in Deutschland behandelt wurde.
Die Sicherheitskräfte verhielten sich zumindest in Moskau anders als bei den Protesten im Winter zunächst etwas zurückhaltender, wie ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur an Ort und Stelle berichtete. Viele Straßen waren mit Absperrgittern im Zentrum verbarrikadiert. Zuletzt hatte es Tausende Festnahmen und massive Polizeigewalt gegen die Nawalny-Unterstützer gegeben. Auch in vielen Städten im Ausland gab es Solidaritätsproteste.
Anfang des Jahres waren bei ähnlichen Protesten russlandweit Tausende Nawalny-Unterstützer festgenommen worden. Das harte Vorgehen der russischen Behörden war damals international teils heftig kritisiert worden. "Wie üblich meinen sie, dass es keinen Protest geben wird, wenn sie die 'Anführer', isolieren", sagte Leonid Wolkow, ein enger Vertrauter Nawalnys. "Das ist natürlich falsch." Ein anderer Nawalny-Anhänger twitterte: "Im Moment werden in ganz Russland potenzielle Demonstranten verhaftet. Das ist Unterdrückung. Das kann nicht akzeptiert werden. Wir müssen gegen diese Dunkelheit kämpfen."
Die Grüne-Sprecherin für Außenpolitik und Menschenrechte, Ewa Ernst-Dziedzic, verurteilte die Vorgänge. "Nicht genug damit, dass der Kreml Oppositionelle mithilfe einer willfährigen Justiz zum Schweigen bringen will, er will auch jene mundtot machen, die ihre bürgerlichen Rechte wahrnehmen und ihren Unmut gegen diese schreiende Ungerechtigkeit öffentlich kundtun", erklärte Ernst-Dziedzic in einer Aussendung: "Wer die Legitimität von Präsident Putin in Frage stellt, den trifft die volle Härte des Staatsapparats. Mit Eisenstäben und Knüppeln wird es dem Langzeitherrscher auf Dauer aber nicht gelingen, die gesellschaftlichen Dissonanzen verstummen zu lassen."