Selbst Zehntausende Tote jedes Jahr können nichts daran ändern: Schusswaffen sind ein integraler Teil von Amerikas politischer Kultur. Ihr privater Besitz wird mit individueller Freiheit gleichgesetzt.
Der Zweite Zusatzartikel, das sogenannte „Second Amendment“, ist die am heftigsten debattierte und umkämpfte Passage der amerikanischen Verfassung. Er verankert das Recht eines jeden US-Bürgers, eine Waffe besitzen zu dürfen. Im Wortlaut steht da geschrieben: „Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“
Wie die immerwährende Neutralität in Österreich ist diese Passage engstens mit der Identität des Landes verknüpft. Vor allem für republikanische Wähler sind Freiheit und das Recht auf Waffenbesitz ein und dasselbe. Jeder republikanische Präsidentschaftskandidat muss daher als Verteidiger des Zweiten Zusatzartikels, und damit des amerikanischen Freiheitsgedankens, auftreten. Nichts mobilisiert konservative Wähler neben linker Abtreibungspolitik mehr als die Angst, dass Demokraten dieses Grundrecht beschneiden könnten.
Da aber im Zusatzartikel nur von einer wohlgeordneten Miliz die Rede ist, war das Recht des Einzelnen auf Waffenbesitz zumindest bis 2008 juristisch sehr umstritten. Erst damals entschied der Oberste Gerichtshof mit knapper Mehrheit, dass der Artikel das Recht jedes individuellen Bürgers sichert, eine Waffe zu tragen. Die Entscheidung markierte gleichzeitig den Höhepunkt der Macht der National Rifle Association (NRA), der größten Interessengruppe der amerikanischen Schusswaffenlobby, die sich über Jahrzehnte für diese Interpretation einsetzte. Die NRA, die beinahe jede Art der gesetzlichen Waffenkontrolle ablehnt, ist seit den 1980er-Jahren ein wichtiger Faktor in jedem Präsidentschafts- und Kongresswahlkampf. Eine NRA-Wahlempfehlung kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Biden: "Waffengewalt ist eine Epidemie"
Angesichts der ausufernden Schusswaffengewalt in den USA will Präsident Joe Biden die Waffenregularien jetzt an mehreren Stellen strenger machen. "Waffengewalt in diesem Land ist eine Epidemie", sagte Biden im Rosengarten des Weißen Hauses in Washington. Es sei auf internationaler Ebene auch ein Grund zur Scham für die Vereinigten Staaten. "Es ist lange überfällig, dass wir handeln."
Biden will mithilfe des Justizministeriums unter anderem gegen sogenannte Geisterwaffen vorgehen, die einfach im Internet gekauft und schnell zusammengebaut werden können, aber keine Seriennummer haben - was die Strafverfolgung im Falle eines Verbrechens erschwert. Für eine grundlegende Verschärfung der Waffengesetze ist der Präsident aber auf den Kongress und vor allem den Senat angewiesen, den Biden einmal mehr zum Handeln aufrief.
"Ghost Guns" seien für Sicherheitskräfte ein zunehmendes Problem, hieß es auf dem Weißen Haus. Biden wies das US-Justizministerium an, innerhalb von 30 Tagen eine Vorschrift vorzulegen, um deren Verbreitung einzudämmen. Das Ministerium soll unter anderem auch Muster-Gesetzgebung für Bundesstaaten erarbeiten, wonach Gerichte auf Antrag bestimmten Personen zeitweise ihre Waffen entziehen können, wenn diese für sich oder andere eine Gefahr darstellen.
In mehreren Bundesstaaten gibt es solche Gesetze bereits. Bidens Regierung wünscht sich dies jedoch flächendeckend und will durch die Mustergesetzgebung den Staaten den Weg dahin erleichtern.
Biden will zudem David Chipman zum Chef der Aufsichtsbehörde ATF machen, die in den USA unter anderem den illegalen Einsatz und Verkauf von Feuerwaffen bekämpft. Chipman war zuletzt ein Berater des Giffords-Zentrums, das sich für strengere Waffengesetze einsetzt.
Der Präsident forderte zugleich den Kongress auf, schärfere Waffengesetze zu beschließen. Die Demokraten im Repräsentantenhaus hatten erst kürzlich einen neuen Anlauf unternommen, um gesetzlich zu regeln, dass Waffenkäufer strenger kontrolliert werden. Der Präsident appellierte erneut an den Senat, diese Änderungen zu verabschieden.
Außerdem sprach er sich dafür aus, Kriegswaffen wie Sturmgewehre zu verbieten. Niemand brauche Kriegswaffen mit 100 Schuss Munition, mahnte er. Biden beklagte, Beileidsbekundungen von Kongressmitgliedern nach tödlichen Schussattacken reichten nicht aus. "Genug mit den Gebeten - es ist Zeit zum Handeln."
Vor wenigen Wochen hatten zwei schwere Angriffe in den USA für Entsetzen gesorgt. In und um die Stadt Atlanta im Bundesstaat Georgia hatte ein Angreifer in drei Massagesalons Mitte März acht Menschen erschossen. Wenige Tage später tötete ein Schütze in einem Supermarkt in der Stadt Boulder im Bundesstaat Colorado zehn Menschen.
In den USA kommt es regelmäßig zu tödlichen Zwischenfällen mit Schusswaffen, die dort leicht zu kaufen sind. Die Gesundheitsbehörde CDC verzeichnete in ihrer jüngsten Statistik aus dem Jahr 2018 insgesamt 39 740 Schusswaffentote in den USA - also etwa 109 Tote pro Tag. Während der Pandemie und der Beschränkungen des sozialen Lebens waren blutige Schießereien etwas seltener geworden. Beobachter beklagten angesichts der zwei schweren Attacken innerhalb weniger Tage jedoch die Rückkehr zu einer düsteren "Normalität" in den USA.
Auch in den vergangenen Tagen kam es zu diversen weiteren tödlichen Schussattacken. Erst am Mittwoch tötete ein Schütze im US-Bundesstaat South Carolina fünf Menschen, darunter einen Arzt, dessen Ehefrau und zwei Enkel. Die Kinder waren laut US-Medien fünf und neun Jahre alt.
"Dies ist eine Epidemie, Herrgott noch mal!"
Biden verwies auf diesen jüngsten Vorfall und äußerte sich insgesamt entsetzt über die hohe Anzahl Schießereien und Tote. "Dies ist eine Epidemie, Herrgott noch mal!", mahnte er. "Und es muss aufhören." Die nun vorgestellten Schritte seien nur ein Anfang. "Wir haben viel Arbeit vor uns."
Justizminister Merrick Garland bezeichnete die Waffengewalt im Land als "Plage" und "andauernde Tragödie". Allein in diesem Jahr seien geschätzt bereits rund 11 000 Menschen in den USA durch Schusswaffen ums Leben gekommen.
Rufe nach schärferen Waffengesetzen gibt es nach jeder größeren Schuss-Attacke in den USA - jedoch ohne größeren Erfolg. Strengere Überprüfungen von Waffenbesitzern und das Verbot von Kriegswaffen werden in den USA schon seit längerem diskutiert, fanden bisher jedoch nicht die nötigen Mehrheiten im Kongress. Viele Republikaner lehnen eine Verschärfung der Waffengesetze ab. Die Waffenlobby ist in den Vereinigten Staaten sehr mächtig.
Biden sind damit - wie auch zum Beispiel dem früheren demokratischen Präsidenten Barack Obama - die Hände gebunden. Die Verfügungen eines Präsidenten haben nur begrenzten Einfluss. Für weiter reichende Veränderungen müsste der Gesetzgeber handeln. Die Demokraten haben derzeit in beiden Kammern des US-Kongresses eine knappe Mehrheit, wären im Senat aber auf Stimmen der Republikaner angewiesen.