Koste es, was es wolle – der Satz, im Englischen noch offener „whatever it takes“, begleitet die europäische Impfstoffbeschaffung von Beginn an. Koste es, was es wolle: Österreich scheint es gerade sehr viel gekostet zu haben, da ist aber nicht von Geld die Rede. Die Winkelzüge des Bundeskanzlers um die von manchen EU-Ländern selbst ausgelöste Ungleichheit bei den Impfstofflieferungen auszugleichen, haben ein ebenso begrüßenswertes wie fatales Ende genommen: Gut für die Länder, die nun dank europäischer Solidarität ihren Rückstand aufholen können, schlecht für Österreich, das auf der europäischen Bühne einen enormen Flurschaden hinterlassen und sich selbst nichts Gutes getan hat. Österreich wollte 400.000 Dosen aus einem Sonderkontingent, das die EU-Kommission extra für die Streithähne aufgetrieben hat; bekommen haben wir nach tagelangen Debatten statt der anfangs gebotenen 140.000 Dosen nun knapp 200.000 Dosen, von denen wir nun aber 30.000 an Tschechien weitergeben, weil die Tschechen zwischen den Verhandlungssträngen durchgefallen sind – der Preis für all das ist, dass es sich unser Land bis auf Weiteres mit dem Rest von Europa grob verscherzt hat.

Kurze Rückblende: Von seiner Israel-Reise kehrte der Kanzler mit der Erkenntnis zurück, dass die von allen EU-Ländern vereinbarte Abkehr vom Pro-Rata-Population-Prinzip, das die EU-Kommission vorgeschlagen hatte (jedes Land bekommt von jeder Impfstofflieferung den selben Anteil laut Bevölkerungszahl) für manche gut gelaufen ist, für andere nicht. Wer auf an sich zustehende Lieferungen von Pfizer, Moderna oder Johnson&Johnson verzichtet hat und stattdessen beim billigeren AstraZeneca blieb, gerät wegen der unerwarteten Lieferschwierigkeiten des britisch-schwedischen Herstellers alsbald in Rückstand. Dänemark, Malta, Deutschland und andere Länder hatten hingegen bei den frei werdenden Kontingenten zugegriffen und liegen deshalb über Plan.

Kurz holte in einer eilig einberufenen Pressekonferenz zum Rundumschlag aus, sprach von „geheimen Absprachen“ und einem „Basar“ und machte sich zum Fürsprecher jener Länder, die ins Hintertreffen geraten waren: Bulgarien, Lettland, Slowenien, Kroatien und Tschechien. Später gab es noch einen gemeinsamen Auftritt, an dem auch Tschechien teilnahm. Doch der Kanzler zählte auch Österreich zu den Betroffenen, weil die Bestellungen für das Ende des zweiten Quartals ebenfalls einen Rückstand befürchten ließen. Die EU-Kommission reagierte missmutig, schließlich hatten die Länder sich selbst in die Lage gebracht. Auch Ratspräsident Charles Michel war angeblich nicht erfreut, als die Gruppe die Sache zum Hauptthema des jüngsten Gipfels machte. Kurz habe den „Gipfel gekapert“, schrieb da schon ein Beobachter, der Kanzler hielt dem entgegen: „Wenn die Impfstoffverteilung kein Thema für den Gipfel sein soll, was dann?“

Das Murren der Anderen

Doch spätestens zu diesem Zeitpunkt war das Murren der meisten Anderen nicht mehr zu überhören. Als die Sache schließlich den EU-Botschaftern umgehängt wurde, weil sich die Staats- und Regierungschefs nicht mehr mit dem Streit um einzelne Impfdosen aufhalten wollten, zeigte sich Kurz „optimistisch, einen solidarischen Ausgleich zu schaffen“; im selben Moment bekräftigten Italien und Deutschland aber bereits, dass sie keinesfalls an eine Änderung der Kriterien dächten – und dass Österreichs Rückstand als solcher nicht erkennbar sei. Die Zeichen an der Wand wurden ignoriert.

Die Verhandlungen der Botschafter gingen über Tage, sie werden wohl nicht angenehm gewesen sein. Vor allem aber ging es dort erst recht zu wie auf einem Basar, den Kurz zuvor so angeprangert hatte. Von Anfang an ließ die portugiesische Ratspräsidentschaft, vermutlich mit Unterstützung eines Großteils der EU-Länder, keinen Zweifel am Grundgedanken: Den Nachzüglern soll, wenn es denn sein soll, mit drei Millionen Dosen des Sonderkontingents geholfen werden – Österreich gehöre da nicht dazu, weil es im Spitzenfeld der Impfungen liegt. Die restlichen sieben Millionen würden nach Bevölkerungsschlüssel aufgeteilt, exakt 139.170 Dosen wären das für uns gewesen.

Meldungen über Blockade

Nicht wirklich hilfreich war, als Meldungen auftauchten, Österreich wolle die Bestellung des gesamten Sonderkontingents von 100 Millionen Impfdosen für alle EU-Länder blockieren, wenn es seinen Willen nicht durchsetzen könne. Das Bundeskanzleramt argumentierte, man habe bloß für die Bestellvorgänge Klarheit über die ersten zehn Millionen verlangt, bevor es zu den anderen 90 gehen könne, von Blockade könne keine Rede sein. Später stellte sich heraus, dass so eine Bestellblockade technisch gar nicht möglich gewesen wäre, aber neuerlich war da die Milch schon verschüttet.

Bis zum Schluss wehrte sich Österreich dagegen, flankiert von Slowenien und Tschechien. Und am Ende bekamen diese drei Länder ihren Bevölkerungsanteil von den gesamten 10 Millionen, in unserem Fall rund 199.000 Dosen. Was aber bedeutet: Ausgerechnet Österreich, das den großen Wirbel ausgelöst hat, beteiligt sich nicht an der solidarischen Hilfsaktion für die benachteiligten Länder. Besonders fatal wirkt sich das letzten Endes für Tschechien aus, das im ersten Vorschlag eigentlich viel mehr Dosen bekommen hätte und nun um diesen Anteil umfällt. Die „mangelnde Solidarität gegenüber Tschechien“ sei „absolut nicht nachvollziehbar“, hieß es danach aus dem Bundeskanzleramt und es folgte eine erstaunliche Reaktion: Österreich werde in Abstimmung mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) "Tschechien auf bilateralem Weg mit 30.000 Impfdosen unterstützen", kündigte Sebastian Kurz nach Angaben des Bundeskanzleramts gestern an.

Zum Vergleich: Rund 2,85 Millionen der zehn Millionen vorgezogenen Dosen von BioNtech/Pfizer werden für einen Solidaritätsausgleich genutzt. Bulgarien erhält nun 1,15 Millionen Dosen mehr als nach dem üblichen Verteilungsschlüssel. Bei Kroatien sind es 683.514 Dosen, bei der Slowakei 602.255, bei Lettland 376.456 und bei Estland 41.390. Damit die Unterstützungsaktion möglich wurde, mussten alle 19 Länder jeweils auf rund 30 Prozent ihrer Impfdosen verzichten: Deutschland gab dabei 558.000 Dosen ab, Frankreich 450.000 und Italien 404.000.

Vernichtende Reaktionen

Die internationalen Reaktionen auf all das sind für Österreich vernichtend. Das EU-Portal "Politico" schrieb, für Kurz markiere der Impfstoffstreit in der EU "ein Scheitern an mehreren Fronten. Er war nicht in der Lage, zusätzliche Impfdosen für sein Land zu sichern; er hat die bedürftigen Länder verraten, die ursprünglich seine Bemühungen unterstützten; und er hat seine eigenen Bestrebungen untergraben, ein Anführer der in Europa dominierenden politischen Mitte-Rechts-Familie zu werden." Das Magazin zitierte einen namentlich nicht genannten Diplomaten mit den Worten, Kurz sei nun eine 'persona non grata" für die meisten Mitgliedsstaaten. Ähnlich lautende Berichte waren davor schon etwa in der „Financial Times“, im „Spiegel“ oder in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen gewesen – und in dieser Tonart äußern sich fast alle Diplomaten, die man in Brüssel auf den Sachverhalt anspricht. Wie die „FT“ einen Diplomaten zitiert: „Wien hat die Auseinandersetzung verloren, hat das Wohlwollen verloren und hat mit seinen Possen Freunde verloren. Diese Episode und der unverhohlene Mangel an Solidarität von Wien werden nicht einfach vergessen werden.“

Ein anderer EU-Diplomat machte sich laut dpa recht undiplomatisch Luft: "In dem Robin-Hood-Kostüm von Kurz und seinen beiden Freunden steckte dann doch nur wieder der finstere Sheriff von Nottingham. Sie nehmen Impfstoffe, teilen aber keine Impfstoffe."

In Österreich blieben solche Reaktionen der Opposition überlassen. Kurz sei „am EU-Parkett nicht nur ausgerutscht, er ist schwer gestürzt“, sagte SPÖ-Klubvize Jörg Leichtfried. „Wir haben uns vollkommen ins Aus manövriert. Bravo!", schrieb die NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon auf "Twitter". Gamon kritisierte, dass Österreich die bedürftigen Länder nicht mit eigenen Impfdosen unterstützt habe: "Österreich nimmt an dieser solidarischen Verteilung gar nicht Teil. Das offizielle Österreich lässt andere EU-Staaten im Stich." Der Politologe Peter Filzmaier sieht in dem EU-Impfstoffstreit eine gewisse Ablenkung von der Debatte, warum Österreich zu wenig Impfstoffe bestellt habe und wer davon wann gewusst habe. "Es überlagert die Ausgangsdebatte."

Das Bundeskanzleramt selbst sieht das alles freilich in einem anderen Licht: Es gebe nun ein „solides Ergebnis“. Österreich habe auf das Problem der ungleichen Verteilung von Impfstoff hingewiesen. "Es ist gut, dass dies in der EU anerkannt wurde und dass mit dem Solidaritätsmechanismus diese Ungleichheit bei der Verteilung von Impfstoff für einige stark betroffene Staaten, wie Kroatien oder Bulgarien, reduziert werden soll."