Morgen finden in Bulgarien Parlamentswahlen statt. Experten zufolge hat Premierminister Bojko Borissow gute Chancen, zum vierten Mal Regierungschef des Landes zu werden. Wie ist das möglich?
Antony Todorov: Die meisten Umfragen zeigen, dass GERB, die Regierungspartei von Bojko Borissow, die meisten Stimmen bekommen wird. Aber sie wird nicht die Chance haben, die Mehrheit von 121 Sitzen im zukünftigen Parlament zu erreichen. Es wird also ziemlich schwierig sein, eine Regierung zu bilden, weil die meisten anderen Parteien im Parlament GERB isolieren werden. Aber es ist schon seltsam, dass Borissow nach so vielen Skandalen in den letzten beiden Jahren wieder in der Lage ist, Wahlen zu gewinnen. Einer der Hauptgründe ist die Unfähigkeit der Opposition, und vor allem der sozialistischen Partei, Regierungsfähigkeiten zu demonstrieren.
Wie schafft es Borissow seit 2009 fast durchgängig zu regieren?
Todorov: Borissow wurde verdächtigt, Teil des organisierten Verbrechens zu sein, was ihn aber nicht daran hinderte, 2005 Bürgermeister der Hauptstadt Sofia und 2009 Premierminister zu werden. Anfangs gelang es ihm, viele Bürger davon zu überzeugen, dass er in der Lage sei, die Korruption zu bekämpfen. Und nachdem er seine Partei aufgebaut hatte, gelang es ihm, die Mehrheit der Menschen mit seinem Stil des populären, starken Führers zu faszinieren, der dem einfachen Volk nahe ist. Seine Partei schaffte es, die Menschen nicht auf der Basis eines ideologisch-politischen Projekts anzuziehen - GERB hat keine Ideologie -, sondern auf der Basis von ganz konkreten privaten Interessen. Einmal an der Macht, war GERB am erfolgreichsten bei der Verteilung öffentlicher Mittel, und auch europäischer Gelder, an seine Klientel, die großen Unternehmen. Und schließlich etablierte GERB in diesen letzten 10 Jahren eine starke Kontrolle über den öffentlichen Dienst und die Karriereverfahren, die es ihr erlaubte, die Unterstützung der Masse zu haben. Wir befinden uns in einer realen Situation der politischen Hegemonie von GERB.
Bulgarien liegt mit einer Impfrate von 4,9 Prozent der Bevölkerung weit hinten im europäischen Impfranking. Was ist schief gelaufen?
Todorov: Ich denke, dass das gesamte Management der COVID-Krise ein Fehlschlag ist. Die Regierung hat eine Art mimetisches Verhalten, eine Inszenierung, an den Tag gelegt und ist dem gefolgt, was in den meisten großen europäischen Ländern beschlossen wurde. Und die Regierung hat versucht, die Proteste der bedeutenden und einflussreichen Unternehmen in Bulgarien nicht zu provozieren. Das Gesundheitssystem steht unter großem Druck, aber selbst jetzt, mit mehr als 4000 täglich infizierten Menschen, hat die Regierung beschlossen, den Lockdown zu lockern. Denn es ist der Vorabend der Wahlen. Ich denke auch, dass es dieser Regierung an administrativen Fähigkeiten mangelt, auch wegen ihrer Karrierepolitik, die rein auf Vetternwirtschaft und Parteiloyalität basiert.
Mehr als 30 Jahre nach dem Fall des Kommunismus scheint ein großer Teil der Stasi-Akten in Bulgarien immer noch nicht aufgearbeitet zu sein. Weshalb nicht?
Todorov: Die meisten Akten scheinen 1990 bis 1991 vernichtet worden zu sein. Aber es ist klar, dass viele ehemalige Agenten der bulgarischen Stasi eine wichtige Rolle bei der Privatisierung der Wirtschaft gespielt haben und, nachdem sie wirtschaftliches Kapital angehäuft hatten, im politischen Leben von Bedeutung waren und immer noch sind. Allerdings ist eine Person, die 1990 40 Jahre alt war, heute 70 Jahre alt, sodass nicht mehr allzu viele einflussreiche Personen der kommunistischen Geheimdienste aktiv sind. Es gibt neue private Netzwerke von wirtschaftlichen, medialen und politischen Akteuren, die gegenwärtig die Agenten dieser "Staatseroberung" sind, in denen GERB und Borissow eine wichtige Rolle spielen.
Hat die Wende in Bulgarien stark genug stattgefunden? Ist es nicht so, dass Clans und Dynastien von (ex-)kommunistischen Parteimitgliedern die Politik in Bulgarien nach wie vor wie eine Art Familienunternehmen verstehen und daraus auch Ansprüche ableiten?
Todorov: Man könnte sagen, die alten kommunistischen Eliten scheinen immer noch an der Macht zu sein. Es gab keine politische Sühne oder Läuterung in Bulgarien, und vielleicht hat dies die Situation ermöglicht, dass die Nomenklatura weiterhin das Land regiert. Aber meiner Meinung nach ist diese Erklärung oberflächlich, denn die antikommunistische Opposition war nicht in der Lage, eine Alternative zu werden. Die Gegner des kommunistischen Regimes waren recht heterogen, viele ihrer Führer teilten keine demokratischen Werte und unterstützten oft rechtsextreme und nationalistische Bewegungen, nur weil sie antikommunistisch waren. Antikommunistisch zu sein, bedeutet in Bulgarien aber nicht immer demokratisch zu sein.
Was denken Sie über die Rolle der EU: Ist Borissow nützlich für die EU? Ist er nützlich für die kompliziert-schwierigen Beziehungen zwischen der EU und Russland oder der EU und der Türkei?
Todorov: Sicherlich ist einer der Hauptgründe für die dauerhafte Führungsposition von Borissow seine "Nützlichkeit" für die meisten EU-Eliten. Borissow ist in der Lage, praktisch alles zu akzeptieren, daher ist er für den Ausgleich zwischen der EU, der Türkei und Russland gut geeignet. Aber er ist unfähig, an schwierigen Gesprächen innerhalb der EU teilzunehmen oder unpopuläre Positionen zu verteidigen. Er scheint irgendwie Angst vor all diesen internationalen Akteuren zu haben und versucht immer, ein gewisses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, da er die Unterstützung von Deutschland und der CDU für wichtig hält. Nur einmal war er nicht in der Lage, den Weg des "vernünftigen Gleichgewichts" zu finden - als er unter dem Druck seiner nationalistischen Verbündeten in der Regierung kürzlich entschied, den Beginn der Verhandlungen zwischen der EU und Nordmazedonien zu stoppen. Dies führte zu einer dramatischen Verschlechterung der zuvor eher freundschaftlichen Beziehungen zu unserem Nachbarn.
Was erhoffen Sie sich für die Zukunft Bulgariens?
Todorov: Eigentlich bin ich für die nahe Zukunft sehr pessimistisch. Bulgarien scheint sich in einer Periode politischer Instabilität und wachsender Unzufriedenheit mit der liberalen Demokratie zu befinden, die viele als ungerecht und heuchlerisch empfinden.