Es läuft nicht rund in Brasilien. Die Coronapandemie gerät immer weiter außer Kontrolle. In keinem Land sterben derzeit pro Tag so viele Menschen an den Folgen von Covid-19 wie in Brasilien.  3780 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 in den vergangenen 24 Stunden meldete das Gesundheitsministerium in Brasília am Dienstagabend (Ortszeit). Die Krankenhäuser stehen vor dem Kollaps, es mangelt an Sauerstoff und Beatmungsgeräten; Impfstoffe fehlen allerorten. 

In Brasilien mussten die Gesundheitsbehörden vorige Woche das Überschreiten der Schwelle von 100.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden und damit einen neuen Rekord melden; mehr als 300.000 Menschen starben seit Beginn der Pandemie an Covid-19. Nur in den USA wurden in absoluten Zahlen noch mehr Infektionen und Todesfälle registriert. Und es hagelt Kritik an Präsident Jair Bolsonaro.

Auf dem letzten Platz

"Es ist der größte Genozid unserer Geschichte", sagte Luiz Inácio Lula da Silva, Brasiliens Ex-Präsident und prominentester Kritiker Bolsonaros, in einem Interview mit dem "Spiegel". Die Wissenschaft sieht das nicht anders: Eine Studie des australischen Lowy Institutes verglich das Corona-Management von 98 Ländern. Auf Platz 98 landete Brasilien. Tatsächlich hat Bolsonaro das Virus ein Jahr lang nicht ernst genommen und Maßnahmen gegen das Virus, welche die Gouverneure der Bundesstaaten ergriffen, hintertrieben.

Die Lage ist zweifelsohne dramatisch. An vielen Orten ist das Gesundheitssystem bereits zusammengebrochen oder am äußersten Limit. Hinzu kommt die besorgniserregende brasilianische Mutante P.1, die sich ausbreitet und als deutlich ansteckender gilt. Vereinzelt trat P.1 bereits auch in anderen Ländern auf.

"Manaus-Mutante"

Studien haben ergeben, dass die "Manaus-Mutante", wie sie auch genannt wird, das Immunsystem von bis zu 60 Prozent aller Menschen austricksen kann, die schon einmal an Covid-19 erkrankt waren. Die meisten Impfstoffe scheinen zwar gegen P.1 zu wirken, allerdings in recht unterschiedlichem Grad. Getestet wurde dies bisher erst im Labor. "Die Welt hat die Gefahr von P.1 noch gar nicht begriffen", warnte kürzlich der Epidemiologe Eric Feigl-Ding von der Föderation Amerikanischer Wissenschaftler in Washington. Dass P.1 auch schwerere Verläufe auslöst, ist allerdings wissenschaftlich noch nicht bestätigt.

„Brasilien entwickelt sich zur Gefahr für die weltweite Corona-Bekämpfung", schrieb kürzlich auch der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. "Wegen hoher Infektionszahlen mit der P.1-Variante kann P.1 sich weiter verändern und eine komplette Escape-Variante gegen alle bisherigen Impfstoffe entstehen", so Lauterbach weiter. In Laborstudien gebe es das schon.

Doppelte Bedrohung

Brasilien ist damit unter Bolsonaro gleich doppelt zur Bedrohung geworden: durch sein Laisser-faire in der Pandemie und in der Klima-Krise: Die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes hat sich unter ihm beschleunigt. Bolsonaro hat dem Umweltministerium finanzielle Mittel gekürzt. Zugleich macht der Präsident auch immer wieder klar, dass Abholzung und Landraub kein Problem wären - und dass ihm die Rechte der Indigenen, deren Land abgeholzt wird, um dort Plantagen zu bauen, egal sind. Das hatte 2019/20 einen Rekordanstieg an Rodungen zur Folge. Davon betroffen sind vor allem indigene Menschen, die normalerweise auf diesen Gebieten leben. Wichtiger Hinweis Russaus am Rande: Abgeholzt werden die brasilianischen Wälder unter anderem auch deshalb, um den europäischen Fleischhunger zu stillen.

Befreiungsschlag?

Bolsonaro ist nun doch unter Druck geraten - was ihn offenbar doch überzeugte, in der Öffentlichkeit mit Maske aufzutreten. Am Montag sprangen ihm zwei seiner Minister ab, darunter der Außenminister, der in der Kritik steht, bei der Impfstoff-Diplomatie versagt zu haben. Bolsonaro tauschte in der Folge gleich sechs Minister aus - der Versuch eines Befreiungsschlags, der aber die Kritik an seinem Pandemie-Versagen kaum zum Verstummen bringen wird.  "Dies ist der größte Zusammenbruch des Gesundheitssystems in der Geschichte Brasiliens“, schreibt Fiocruz, ein brasilianisches Institut für öffentliche Gesundheit. 

"Wenn er ein bisschen Größe hätte, dann hätte er sich bei den Familien der 300.000 Covid-Toten und Millionen Infizierten entschuldigt. Er ist dafür verantwortlich", sagte Lula.