Die Erwartungen waren enorm, als am Montag in Minneapolis der Prozess gegen Derek Chauvin eröffnet wurde. Es ist noch nicht ganz ein Jahr her, da drückte der weiße Polizist acht Minuten und 46 Sekunden sein Knie auf den Hals des Schwarzen George Floyd. Letzterer war festgenommen worden, weil er angeblich einen gefälschten Geldschein verwendet haben soll. Unter Chauvins Knie bekam Floyd bald keine Luft mehr. Ein Video des Zwischenfalls zeigte, wie er immer wieder nach Atem rang und den Polizisten auf sein Leiden hinwies. „I can’t breathe“ – ich kann nicht atmen – so Floyd immer wieder. Doch Chauvin ließ nicht ab. Floyd starb.
Der Tod des 46-Jährigen löste einen Aufschrei in den USA auf. Im ganzen Land kam es zu Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt – zum allergrößten Teil friedlich, doch teilweise schlugen sie auch in Ausschreitungen und Plünderungen um. Die Proteste setzten eine heftige Diskussion über die Rolle der Sicherheitskräfte in Gang und prägten den Präsidentschaftswahlkampf. Eine Teilstraße in Washington, die zum Weißen Haus führt, trägt seit den Protesten den Namen „Black Lives Matter Plaza“. Das Gesicht von George Floyd prangt im ganzen Land von Hauswänden und Plakaten – als Mahnung gegen Polizeigewalt und strukturellen Rassismus.
Rennen um Präsidentschaft verschärfte die Situation
Das Rennen um die Präsidentschaft verschärfte die Auseinandersetzung über das Thema noch. Ex-Staatsoberhaupt Donald Trump versuchte sein Amt zu retten, indem er auf die alte rassistische Chiffre von „Law and Order“ setzte und den Wählerinnen und Wählern in den Vorstädten Angst vor dem angeblich massenhaften Einzug von Minderheiten in ihre Nachbarschaften einjagen wollte. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung ließ er friedliche Demonstranten vor der Regierungszentrale mit Tränengas vertreiben, um eine Bibel in die Kameras zu halten. Aktivisten auf dem linken Flügel forderten hingegen unter dem Slogan „Defund the Police“ hingegen eine grundsätzliche Reform der Polizeibehörden – teilweise bis hin zu ihrer Abschaffung. Joe Biden wiederum suchte sein Glück in der Mitte, traf sich mit Floyds Familie und sprach ihr Mut zu. Gleichzeitig lehnte er tiefgreifende Veränderungen in der Polizeiarbeit, die von einigen Aktivisten gefordert worden war, ab.
Seit Wochen wieder Demonstrationen
Gelöst ist dieser Konflikt noch lange nicht, auch wenn er in den ersten Wochen der Biden-Administration zunächst ein Stück aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden ist. Das könnte sich durch den Chauvin-Prozess nun erneut ändern. Bereits seit Wochen wird in Minneapolis wieder demonstriert. Das Gerichtsgebäude ist mit einem Großaufgebot an Sicherheitskräften geschützt. Gleichzeitig wird das Verfahren per Livestream in alle Welt übertragen. Chauvin drohen im Fall einer Verurteilung bis zu 40 Jahre Gefängnis.
Doch angesichts der Bedeutung, die der Tod von George Floyd im vergangenen Jahr annahm, geht es in dem Prozess nicht nur um die Zukunft des 45-Jährigen. Das Verfahren gilt für die „Black-Lives-Matter“-Aktivisten als erster Test, ob sich mit Blick auf den strukturellen Rassismus in den Vereinigten Staaten tatsächlich etwas geändert hat. Es ist das erste Mal, dass im Bundesstaat Minnesota ein weißer Polizist wegen der Tötung eines Afroamerikaners angeklagt wurde. Eine Verurteilung von Chauvin wäre damit ein Signal, dass der Tod eines Schwarzen Mannes nicht einfach als selbstverständlich hingenommen wird. Kommt es hingegen zu einem Freispruch, könnte der aufgestaute Druck im Land sich erneut entladen – womöglich auch mit Gewalt.
Ausgang nicht vorhersehbar
Wie der Prozess ausgehen wird, lässt sich derzeit nicht absehen. Die Gemengelage ist kompliziert. Allein die Auswahl der Geschworenen, die das Urteil über Chauvin fällen werden, dauerte rund zwei Wochen. Die Stadt Minneapolis sicherte der Floyd-Familie zudem bereits ein Schmerzensgeld in Höhe von 27 Millionen Dollar zu – ein Schritt, den Chauvins Verteidiger heftig kritisierten. Dies mache es der Jury unmöglich, unvoreingenommen auf den Fall zu blicken, so seine Anwälte.
Überhaupt wollen die Verteidiger ihren Mandanten als aufrechten Ordnungshüter darstellen. Floyd habe die Eskalation der Situation im vergangenen Mai zu verantworten. Sein Tod sei nicht durch Polizeigewalt, sondern durch eine Herzvorerkrankung ausgelöst worden. Zudem seien bei Floyds Autopsie Reste von Drogen im Körper nachgewiesen worden. Dass Chauvin in den 19 Jahren seiner Dienstzeit stolze 22 Beschwerden wegen Fehlverhaltens und zwei formelle Disziplinarverfahren ansammelte, passt allerdings nicht ganz in dieses Bild.
In zwei bis vier Wochen könnte die Jury bereits über die Zukunft von Derek Chauvin entscheiden. Die Familie von George Floyd hofft auf eine Verurteilung – nicht nur für sich selbst. „Als Schwarze wissen wir, dass es keine Garantie dafür gibt, dass ein Polizist dafür verurteilt wird, wenn er uns getötet hat“, so Angehörigen-Anwalt Ben Crump. „Das hat die Geschichte uns gelehrt.“ In Minneapolis könnte nun eine neue Lektion hinzukommen.
Julian Heißler aus Washington