Es war ein bemerkenswerter Satz - noch dazu aus dem Mund von Angela Merkel. „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler. Denn am Ende trage ich allein die Verantwortung“, sagte die deutsche Regierungschefin am Mittwoch im Bundeskanzleramt und kassierte die sogenannte Osterruhe wieder ein, einen Mini-Lockdown von Gründonnerstag bis Ostermontag. Die Bundeskanzlerin korrigiert sich. Das ist neu.
Keine zwei Tage zuvor hatte Merkel nach nächtlichen Beratungen mit den Regierungschefs der Länder noch am selben Ort überraschend einen Lockdown über die Osterfeiertage verkündet.Durch das Schließen von Läden und Fabriken am Gründonnerstag und Karsamstag sollte die dritte Welle der Pandemie geblockt werden. Doch sorgte die überhastete Regelung für Unruhe. Der Einzelhandel fürchtete Hamsterkäufe, die Autobauer um die Produktion in punktgenau abgestimmten transeuropäischen Lieferketten. Und katholische und protestantische Kirche rebellierten gegen den Aufruf, über die Osterfeiertage auf Präsenz-Gottesdienste zu verzichten. So machte Merkel am Mittwoch einen Rückzieher. Sie berief morgens eine neuerliche Video-Runde mit den Ministerpräsidenten ein und trat um 12.30 Uhr im Kanzleramt vor die Presse. Allein.
Ein Fehler müsse als solcher benannt werden
Merkel erklärte am Mittwoch, dass sich die Oster-Regelung nicht mehr rechtlich einwandfrei umsetzen ließe. Sie bedauere „zutiefst und dafür bitte ich alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung“, sagte Merkel und erläuterte: Ein Fehler müsse als solcher benannt und vor allem korrigiert werden, „und wenn möglich hat das noch rechtzeitig zu geschehen“. Die Kanzlerin erntete parteiübergreifend Respekt für ihre mutige Wende. Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sprang Merkel bei. („Es sollte sich niemand aus der Verantwortung stehlen.“) Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef ergänzte: „Das haben alle Ministerpräsidenten entschieden. Ich war genauso dabei.“ Und Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow von der Linken ermunterte gar, die Osterruhe freiwillig einzuhalten.
Unruhe hatte es nach Bund-Länder-Beratungen immer mal gegeben. Die studierte Physikerin Merkel vertraute dabei stets ihrem klugen Verständnis für Zahlen und Exponentialfunktionen. Allen, denen Beschlüsse politisch zu weit gingen, holten spätestens bei der nächsten Beratungsrunde die real steigenden Fallzahlen ein. Die Ziffern waren auch diesmal alarmierend genug, doch dieses Mal war es anders. Das politische Kalkül trügt die Kanzlerin.
Vorstoß überraschte
So herrscht in Deutschland zunächst einmal Oster-Unruhe. Zum einen wegen der Kanzlerin. Nur einmal hatte sich Merkel öffentlich ähnlich exponiert korrigiert. Vor zehn Jahren nach der Atomkatastrophe von Fukushima nahm sie ihre Abkehr vom rot-grünen Atomausstieg zurück. Aber weder in der Eurokrise noch nach dem Flüchtlingsherbst 2015 mochte Merkel Unzulänglichkeiten in ihrem Handeln erkennen. Umso mehr überraschte dieser Vorstoß.
Linkspartei, AfD und FDP forderten umgehend eine Vertrauensabstimmung über die Kanzlerin. „Die Bundeskanzlerin kann sich der geschlossenen Unterstützung ihrer Koalition nicht mehr sicher sein. Die Vertrauensfrage im Bundestag wäre ratsam, um die Handlungsfähigkeit der Regierung von Frau Merkel zu prüfen“, erklärte FDP-Chef Christian Lindner. Die Liberalen haben der Kanzlerin immer noch nicht den unfreiwilligen Abschied aus dem Bundestag 2013 verziehen. Ein vorzeitiger Abschied der Kanzlerin wäre da eine stille Genugtuung. Liberales Kleingeist-Kalkül.
Merkel geht ohnehin nach der Bundestagswahl im September. Dass sie die politische Verantwortung für das Oster-Debakel übernimmt, zeugt von ihrem protestantischen Pflichtgefühl. In diesen Passionstagen nimmt Merkel alle Schuld auf sich - auch um die Politik im Land zu schonen. In der ersten Welle vor einem Jahr galt Deutschland noch als Pandemie-Musterschüler. Selbst der Kolumnist der linksalternativen Zeitung „taz“ jubelte damals, man wolle derzeit wirklich in keinem anderen Land leben. Sommermärchen, Wir sind Papst, Exportweltmeister - das historisch immer noch verunsicherte Deutschland schien sich auch in der Pandemie wieder einmal durch außergewöhnliche Leistung der Anerkennung aller zu vergewissern.
Ein Jahr später wächst die Ungeduld. Firmen warten auf versprochene Corona-Hilfen, in den Schulen mangelt es an Testkits, und Impfstoff fehlt ohnehin überall in Europa. Hinzu kommt die Masken-Affäre der Union. Die Pandemie nagt nicht allein am Saubermann-Image des Landes. Digitalisierung, Organisation, pragmatische Lösungen - die Krise legt schonungslos Deutschlands Schwachstellen offen. Noch immer werden Daten der Gesundheitsämter per Fax an das Robert-Koch-Institut in Berlin übermittelt. Und ihr wollt Exportweltmeister sein?!
Und so richten sich die Blicke doch auf Angela Merkel. Seit fast sechzehn Jahren regiert sie das Land. Sie spielt damit in einer Liga mit Konrad Adenauer (1949-1963) und Helmut Kohl (1982-1998). Adenauer verankerte die Bundesrepublik im Westen, Kohl vollendete die deutsche Einheit und zimmerte den Euro. Und Merkel? Sie führte das Land fast geräuschlos durch Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise. Eine bemerkenswerte Leistung. Aber, wo liegt Merkels Vermächtnis? Die ausgesuchte Erbin Annegret Kramp-Karrenbauer gab vorzeitig auf, in deren Nachfolgeregelung mischte sich die Kanzlerin kaum spürbar ein. Auch in der Kanzlerkandidatenfrage der Union hält sie still. Immer nur auf Sicht, reicht das für das neue Morgen? In der Pandemie entdeckt Deutschland plötzlich ungekannte Problemzonen und Leerstellen.
Merkel verteidigte sich am Mittwoch in einer Fragestunde im Bundestag. „Über die Verbesserung der Arbeitsweise werden wir auch noch einmal miteinander reden“, sagte sie zu den Bund-Länder-Treffen. Mehr nicht. Am Donnerstag und Freitag ist EU-Gipfel. Wenigstens auf europäischer Ebene ist Merkel eine uneingeschränkte Größe. Noch.