Was tun mit einem Partner, den man braucht, der aber immer wieder mit Erpressung droht? Die EU-Spitzen werden bei ihrem Gipfel heute – wieder einmal – über ihre Beziehungen zur Türkei beraten und ihren weiteren Kurs abstecken. Sie sind dabei nicht zu beneiden: Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Hiobsbotschaften aus der Türkei eintreffen: Zuerst leitete Präsident Erdogan ein Verbot der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP in die Wege, dann verkündete er den Ausstieg aus dem Frauenrechtsabkommen des Europarats, dann wurde die nächste Festnahme eines prominenten Menschenrechtlers bekannt und schließlich feuerte Erdogan erneut seinen Notenbank-Chef, weil der nicht tat, wie ihm der Sultan geheißen. Es ist offensichtlich: Der türkische Staatschef hat das Interesse daran verloren, selbst die letzten Reste einer demokratischen Fassade aufrechtzuerhalten.
Er arbeitet an seiner „Operation Machterhalt“. Sein Regierungsbündnis hat Umfragen zufolge die Mehrheit verloren. Angesichts sinkender Zustimmungswerte ist ihm jedes Mittel recht, von dem er glaubt, dass es ihm Stimmen aus konservativ-islamischen und nationalistischen Kreisen bringt.
Für die EU kommen diese Vorfälle zur Unzeit: Sie braucht eine kooperative Türkei beim Gasstreit im Mittelmeer und vor allem, wenn es darum geht, das 2022 auslaufende Flüchtlingsabkommen mit der Türkei neu zu verhandeln. Trotz aller Kritik, die das Abkommen hervorrief, erwies es sich als Hebel, um Migranten daran zu hindern, sich von der Türkei aus auf den Weg nach Europa zu machen. Immer wieder hatte Erdogan damit gedroht, er könne Millionen Menschen Richtung Norden schicken, sollte man sich nicht einigen; im März 2020 hatte er tatsächlich vorübergehend die Grenzen zu Griechenland geöffnet.
"Positive Agenda"
Brüssel aber will Erdogan eine „positive Agenda“ für die gemeinsamen Beziehungen anbieten. Man mag dies als pragmatischen Versuch werten, einen gangbaren Weg mit einem schwierigen Nachbarn zu finden. Doch wie dieses Ansinnen bereits zur Farce verkommt, zeigten die Ereignisse der vergangenen Tage. Am Freitag noch hatte der Sultan vom Bosporus in einer Video-Konferenz mit den EU-Spitzen freundliche Töne angeschlagen, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Kommissionschefin Ursula von der Leyen stellte sogar einen möglichen Besuch in Istanbul in Aussicht; die EU erwägt zudem, die Zollunion mit der Türkei auszuweiten. Nur einen Tag später setzte er die Frauenschutzkonvention aus.
Vertrauen erschüttert
Die Staats- und Regierungschefs wollen heute, wie sie ankündigen, die "Rückschläge bei der Menschenrechtslage" in der Türkei ansprechen. Der Illusion, Erdogan aufhalten zu können, braucht sich Brüssel ohnehin nicht hinzugeben. Denn dass sein Kurs auch der Türkei selbst schadet, scheint deren Präsidenten, der sich heute beim Parteitag der AKP als Chef der Regierungspartei bestätigen lassen will, nicht sonderlich zu kümmern. Seit dem Schlag gegen den Notenbank-Chef steuert die Türkei auf eine schwere Währungskrise zu, die offensichtlich auch das Vertrauen der Investoren erschüttert.