Für die Opposition in der Türkei kommen die Hiobsbotschaften Schlag auf Schlag. Am frühen Sonntagmorgen nahm die Polizei im Parlamentsgebäude von Ankara einen prominenten Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdoğan fest. Der Menschenrechtler Ömer Faruk Gergerlioğlu wurde im Schlafanzug abgeführt und durfte nicht einmal seine Schuhe anziehen. Am Vortag verkündete Erdogan den Ausstieg der Türkei aus dem Frauenrechts-Abkommen des Europarates, kurz zuvor hatte er das Verbot der Kurdenpartei HDP eingeleitet. Der Präsident plant nach Einschätzung von Beobachtern vorgezogene Neuwahlen. Erdoğan -Kritiker werfen der EU eine Beschwichtigungspolitik vor, die Erdoğan zu Repressionen ermutigt.
Regulär stehen die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei erst in zwei Jahren an. Angesichts schlechter Umfragewerte für seine Partei AKP und ihre nationalistische Bündnispartnerin MHP könnte Erdoğan laut Beobachtern jedoch die Flucht nach vorne antreten, um die Opposition mit vorgezogenen Wahlen auf dem falschen Fuß zu erwischen. Ein Verbot der HDP – der drittstärksten politischen Kraft im Land – würde die Opposition vor den Wahlen schwächen. Der 67-jährige Erdoğan will sich bei einem AKP-Parteitag in Ankara an diesem Mittwoch als Parteichef wiederwählen lassen und die Partei auf die nächste Wahl ausrichten.
Dem Abgeordneten Gergerlioğlu, einem der profiliertesten Menschenrechtspolitiker der Türkei, hatte das AKP-geführte Parlamentspräsidium wegen eines umstrittenen Gerichtsurteils sein Parlamentsmandat aberkannt. Aus Protest gegen den Beschluss harrte er seit der vergangenen Woche im Parlamentsgebäude aus. Bilder von seiner Festnahme am Sonntag zeigten, wie Gergerlioğlu von Polizisten aus einer Toilette geholt wurde, wo er sich vor dem muslimischen Morgengebet waschen wollte. Nach seiner Freilassung am Nachmittag berichtete er, er sei von den Polizisten geschlagen worden.
Kommentar von Stefan Winkler
Gezielte Schikanen gegen die Opposition
Mit dem Vorgehen gegen Gergerlioğlu und die HDP kommt die Regierung einer Forderung der Nationalisten nach, auf deren Unterstützung sie angewiesen ist. Mit dem Austritt aus der so genannten Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauenrechten bedient Erdoğan islamistische Kreise, die das Abkommen als westliches Instrument zur Unterwanderung der Familie ablehnen. Erdogan hatte das Abkommen im Jahr 2011 als damaliger Ministerpräsident selbst unterschrieben und noch vor zwei Wochen die Ziele der Konvention verteidigt. Tausende Frauen gingen in mehreren Städten gegen Erdogans Entscheidung auf die Straße. Dagegen feierten Islamisten die Aufkündigung des Vertrags als Sieg.
In einem weiteren Schritt zur Schwächung der Opposition entzog Erdoğan den Gezi-Park in Istanbul der Stadtverwaltung und überschrieb ihm der Zentralgewalt. Regierungsgegner vermuten, Erdoğan wolle damit verhindern, dass die oppositionsgeführte Istanbuler Stadtverwaltung mit einer Erweiterung des Parks an Popularität gewinnt. Pläne Erdoğans zum Bau eines Einkaufszentrums in dem Park hatten 2013 landesweite Proteste ausgelöst.
Mit Unterdrückung gegen den Machtverlust
Erdoğan habe die Mehrheit verloren und setze nun darauf, „die Mehrheit zu unterdrücken“, um an der Macht zu bleiben, kommentierte Soner Çağaptay vom Washington-Institut für Nahost-Politik. Das erkläre das Abdriften der Türkei in die Autokratie, schrieb Çağaptay auf Twitter. Derzeit kommen AKP und MHP laut Umfragen zusammen nur noch auf rund 42 Prozent.
Auch Erdoğans überraschende Entlassung von Zentralbankchef Naci Ağbal nach nur vier Monaten im Amt folgte laut Beobachtern wahltaktischen Überlegungen. Ağbal hatte am Donnerstag die Leitzinsen erhöht, um die Inflation zu bekämpfen – zwei Tage später wurde er vom Präsidenten gefeuert. Erdoğan dringt auf niedrige Zinsen, weil er die krisengeplagte Wirtschaft mit billigen Krediten versorgen will. Der Präsident wolle eine willfährige Zentralbank, die ihm teure Wahlgeschenke ermögliche, schrieb der Politologe Karabekir Akkoyunlu auf Twitter. „Es sieht so aus, als bereite Erdoğan vorgezogene Neuwahlen vor.“
Erdoğan ist offenbar sicher, dass er von der EU wegen seines autokratischen Kurses nichts zu befürchten hat. Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der Außenbeauftragte Josep Borrell kritisierten zwar den Ausstieg der Türkei aus dem Frauenrechts-Abkommen. Auch das österreichische Außenministerium erklärte auf Twitter: "Wir bedauern zutiefst die Entscheidung der Türkei, sich aus der Istanbul-Konvention zurückzuziehen. Die Verhütung und Bekämpfung jeglicher Form von Gewalt gegen Frauen und Mädchen liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung.". Von Strafmaßnahmen ist wenige Tage vor einem EU-Gipfel zur Türkei am Donnerstag aber keine Rede. Von der Leyen stellte Erdogan wenige Tage nach Einleitung des HDP-Verbotsprozesses sogar ihren baldigen Besuch in Ankara in Aussicht. Der im Exil lebende türkische Journalist Cengiz Çandar verglich die Haltung der EU mit der Beschwichtigungspolitik von Großbritannien und Frankreich gegenüber Hitler-Deutschland.
unserer Korrespondentin Susanne Güsten aus Istanbul