Das Fazit fällt vernichtend aus. „Im Erzbistum Köln gab es immer wieder Bestrebungen von einzelnen Verantwortungsträgern, Fälle sexuellen Missbrauchs nicht öffentlich werden zu lassen“, sagte der Kölner Strafrechtler Björn Gercke. Der renommierte Jurist und seine Kollegin Kerstin Stirner hatten im Auftrag des Kölner Erzbischofs Kardinal Rainer Maria Woelki Missbrauchsfälle in Deutschlands größter Diözese in den Jahren 1975 bis 2018 untersucht. Das Urteil ist bitter. Es gab mehr Fälle sexueller Gewalt als vermutet. 314 Missbrauchsfälle listet das Gutachten auf, spricht aber von einer hohen Dunkelziffer. „Die Ausführungen vermögen die tatsächliche Anzahl aller Missbrauchsfälle im hier maßgeblichen Untersuchungszeitraum im Erzbistum Köln nicht abzubilden“, so das Gutachten.
Noch am Donnerstag folgten erste Konsequenzen. Weihbischof Dominikus Schwaderlapp, im Untersuchungszeitraum teilweise Generalvikar in Köln, bot Papst Franziskus seinen Rücktritt an. Er könne nicht „Richter in eigener Sache sein“, so Schwaderlapp. Auch der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, früher verantwortlich für Personal und Seelsorge in Köln, bat den Heiligen Vater um „sofortige Entbindung von seinen Aufgaben“. In seiner Erklärung räumte Heße Fehler ein, bestand aber darauf: „Ich habe mich nie an Vertuschung beteiligt.“ Den Kölner Offizial Günter Assenmacher entband Woelki selbst vorläufig von seinen Aufgaben. Insgesamt benennen die Gutachter acht Geistliche, die Missbrauchsvorwürfe nicht entschieden genug verfolgt oder gar vertuscht hätten. Darunter den vor vier Jahren verstorbenen Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner.
Woelki selbst werden im Gutachten keine Pflichtverletzungen zur Last gelegt. Der konservative Kleriker wurde 2014 zum Erzbischof von Köln ernannt. Er kam aus Berlin und war zuvor Weihbischof in Köln. Das Gutachten lastet Woelki selbst keine Verfehlungen an. Dennoch steht er in der Kritik. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hatte darüber berichtet, dass Woelki Missbrauchsvorwürfe gegen einen ihm nahe stehenden Geistlichen nicht entschieden genug verfolgt habe. Die Kritik wuchs, als er es eigenmächtig ablehnte, ein von der Kirche selbst in Auftrag gegebenes Missbrauchsgutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl nicht zu veröffentlichen. Selbst der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, rückte auf der Frühjahrstagung des Gremiums offen von seinem Amtskollegen ab. Von einem „Desaster“ sprach Bätzing und urteilte: „Das Krisenmanagement ist schlecht in Köln.“
Die größte katholische Diözese in Deutschland
Mit rund 1,8 Millionen Katholikinnen und Katholiken ist Köln die größte Diözese in Deutschland. Doch schwelt seit Langem ein Konflikt zwischen Laien und Bistumsleitung. Sowohl Woelki als auch sein Vorgänger Meisner gelten in theologischen Fragen wie gemeinsames Abendmahl, Abendmahl von Geschiedenen oder Frauenordination als konservative Hardliner.
Entsprechend gespannt war das Verhältnis zur liberalen Basis. Der Umgang mit dem Erstgutachten führte dann zu massiven Kirchenaustritten – nicht nur im Erzbistum Köln. Auch deshalb urteilte Woelkis Amtsbruder Bätzing so harsch.
Die Reaktionen aus der Politik fielen verheerend aus. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) begrüßte die personellen Konsequenzen, sie befand aber auch. „Machtstrukturen ohne jede Kontrolle haben Missbrauch und Vertuschung über Jahrzehnte ermöglicht.“ Täter und Strukturen müssten genannt, jeder Hinweis auf Missbrauch müsste zur Anzeige gebracht werden. Kindesmissbrauch sei „keine interne Kirchenangelegenheit, sondern ein Verbrechen, das von Strafgerichten aufgeklärt werden muss“, betonte die Ministerin.
Matthias Katsch, Sprecher der Opfer-Initiative „Eckiger Tisch“, kritisierte das Gutachten als „Freispruch“ für Woelki. Die Studie kläre weder moralische noch kirchenrechtliche Fragen. Katsch rügte, dass die Perspektive der Betroffenen für die Erstellung des Gutachtens keine Rolle gespielt habe.
Erst der Beginn
Das Gutachten ist ein Anfang, kein Schlusspunkt. Das sehen auch die Gutachter so. „Im Erzbistum Köln gab es immer wieder Bestrebungen von einzelnen Verantwortungsträgern, Fälle sexuellen Missbrauchs nicht öffentlich werden zu lassen“, sagte Gercke und fügte hinzu: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie bei diesen Maßstäben in Deutschland ein Bistum finden, in dem wir keine Pflichtverletzungen festgestellt hätten.“ Das Gutachten beurteilte allein strafrechtlich relevante Vergehen, anders als die Münchner Studie, die auch moralische Verfehlungen bewertete. Das nun vorgelegte Gutachten sei kein Ersatz für Aufarbeitung, sagte Opfer-Vertreter Katsch.
unserer Korrespondenten Peter Riesbeck aus Berlin