Das von Ihnen entworfene EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen wird fünf Jahre alt. Wie lautet Ihre Bilanz?
GERALD KNAUS: In den zwölf Monaten vor der EU-Türkei-Erklärung am 16. März 2016 erreichte eine Million Flüchtlinge und Migranten auf Booten eine der griechischen Inseln nahe der Türkei. Mehr
als 1100 verloren auf dieser gefährlichen Reise ihr Leben. In den zwölf Monaten danach kamen 26.000 auf den Inseln an und 81 starben. Die Vision, „das Geschäftsmodell der Schmuggler zu brechen“,
ist weitestgehend gelungen. Doch die Erklärung krankte von Beginn an an mangelnder Umsetzung.
Was ist schiefgelaufen?
Verfahren wurden in die Länge gezogen, obwohl nur noch wenige ankamen. So kam Leid in die Lager auf den Inseln. Dass es trotz niedriger Ankunftszahlen und viel Geld nicht gelang, Menschen menschenwürdig unterzubringen, war ein vermeidbares Versagen.
Ist der Deal in Wahrheit nicht mit dem von Ankara im Vorjahr inszenierten Massenansturm von Migranten am griechischen Grenzfluss Evros gescheitert?
Ende Februar 2020 erklärte die Türkei ihre Grenzen zur EU für offen, was zu Gewalt an der Landgrenze führte. Am 5. März 2020 fand die letzte Rückführung von dreizehn Personen in die Türkei statt. Was am Evros und auf Lesbos seitdem geschieht, zeigt uns, wie eine Welt ohne die EU-Türkei-Erklärung aussieht: inhumane Bedingungen und eine Politik des systematischen illegalen Zurückstoßens von Flüchtlingen. Seit über
einem Jahr ist die EU-Türkei Erklärung im Koma.
Man müsste sie wiederbeleben.
Wie sollte so eine Wiederbelebung aussehen?
Die EU sollte abermals eine ähnliche Summe für Flüchtlinge in der Türkei zusagen und Umsiedlungen verstärken. Athen müsste für menschenwürdige Aufnahmebedingungen auf seinen Inseln sorgen, europäische Asylbehörden helfen schnelle Asylverfahren zu garantieren. Dazu sollte man einen unabhängigen Überwachungsmechanismus einrichten, um zu prüfen, dass sich alle an die Menschenrechtskonvention halten.
Und was, wenn es keine neue Erklärung gibt?
Leider ist sonst zu erwarten, dass es dabei bleibt, dass an der EU-Außengrenze Flüchtlingsboote gewaltsam in die Türkei zurückgedrängt werden, dass dort syrische Flüchtlinge wichtige Unterstützung durch die EU verlieren, dass weiterhin Familien in kalten Zelten auf Inseln in der Ägäis unwürdig festgehalten werden. Lager wie Moria darf es in der EU einfach nicht geben. Die EU muss zeigen, dass humane Kontrolle möglich ist.