Die 33-jährige Britin Sarah Everard verschwand Anfang März um 21 Uhr auf dem Heimweg im Süden Londons. Eine Woche später wurden Teile ihrer Leiche gefunden. Sarah Everard war ermordet worden.
Die Londoner Polizei riet den Frauen daraufhin, nachts nicht mehr allein das Haus zu verlassen. Die Botschaft war eindeutig: Wenn ihr Frauen kein Opfer von (männlicher) Gewalt werden wollt, müsst ihr schon selbst dafür sorgen, dass das nicht passiert. Es ist wie mit dem kurzen Rock oder dem tiefen Ausschnitt: Selbst schuld, wenn man dann vergewaltigt wird. Klare Aussagen wie "A Dress is not a yes!" sind offenbar auch im Jahr 2021 nicht ganz eindeutig.
Selbst schuld
Es reicht. Am Wochenende protestierten Hunderte Frauen in London gegen Gewalt an Frauen und gegen die Vorstellung, dass Frauen auch (mit-)schuld seien, wenn ihnen etwas passiert. Fast jede junge Frau in Großbritannien ist schon einmal in der Öffentlichkeit sexuell belästigt worden, das hat die UN-Organisation für Geschlechtergerechtigkeit ermittelt.
Die Pandemie führt weltweit zu einer massiven Verschärfung der Gewalt an Frauen und Kindern. Wie schnell die Lage eskaliert, zeigte sich im Vorjahr in China. Während der Quarantänemaßnahmen in Wuhan verdreifachte sich die Zahl von Männergewalt gegen Frauen und Kinder. Die Schwächsten sind in Zeiten den Lockdowns den Tätern - meist Partner oder Verwandte - hilflos ausgeliefert. In Österreich ereignen sich mehr als die Hälfte der Gewalttaten gegen Frauen in ihrem Zuhause.
Ungleichheiten verschärft
"In Europa und darüber hinaus hat die Pandemie die bestehenden Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern in fast allen Lebensbereichen verschärft und hart erkämpfte Fortschritte der vergangenen Jahre wieder zunichtegemacht", teilte die EU-Kommission kürzlich mit. Außerdem, so wurde nachgewiesen, habe die Pandemie zu mehr häuslicher Gewalt gegen Frauen geführt. Deutschland und Österreich gehören zwar zu den reichsten Industrienationen der Welt, aber sie führen auch die Femizid-Statistik in Europa an.
Wieder Millionen Kinderehen
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen warnte, dass eine Errungenschaft des letzten Jahrzehnts - die Verhinderung von 25 Millionen Kinderehen - durch die Corona-Pandemie mittlerweile auch ernsthaft bedroht sei. Zehn Millionen zusätzliche Kinderehen könnten bis zum Ende des Jahrzehnts geschlossen werden, so eine Analyse, die UNICEF laut Aussendung am Montag veröffentlicht. In Österreich sind laut Regierung jährlich 200 Kinder von Zwangsehe betroffen.
Die Pandemie hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben von Mädchen. Da die Schulen geschlossen bleiben, sei es wahrscheinlicher, dass Mädchen ihre Ausbildung abbrechen. Arbeitsplatzverluste und erhöhte wirtschaftliche Unsicherheit könnten Familien auch dazu zwingen, ihre Töchter zu verheiraten, um die finanzielle Belastung zu verringern.
Auch die Berliner Charité verzeichnet seit dem Vorjahr einen massiven Anstieg häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder.
In Ländern, in denen die Zahl der Morde kontinuierlich abnimmt, stieg nach Angaben der Vereinten Nationen im Jahr der Pandemie die Zahl der getöteten Frauen.
Österreich liegt bei den weiblichen Mordopfern im Spitzenfeld. Was läuft da falsch in unserer Gesellschaft? Das fragten wir Psychiater Reinhard Haller. „Männer gehen mit Kränkungen, mit Angst, mit Liebesentzug viel schlechter um als Frauen. Wenn der Mann die Urangst hat, nicht mehr geliebt zu werden, dann setzt er sich nicht damit auseinander, dann schluckt er das nicht hinunter, dann projiziert er auch nicht, wie Frauen all das häufig tun, sondern strebt sofort nach einer im wahrsten Sinn todsicheren Lösung", erklärte der Psychiater.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist aber auch in Lateinamerika die Zahl der Femizide im letzten Jahr alarmierend gestiegen. Als Femizid bezeichnet man die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts
"Wir sind die Täter"
Was tun? Der britische Autor Chris Hemmings hatte kürzlich einen Vorschlag: "Hier wird immer nur über die Sicherheit von Frauen geredet. Das ist genau falsch", sagt der Brite, der sich dem Kampf gegen die Machokultur verschrieben hat.
"Hier geht es nicht um Frauen. Hier geht es um Männer. Wir sind die Täter, ob wir das mögen oder nicht. Wir ändern nur etwas, wenn wir die gesamte Diskussion auf Männer beziehen." Anstatt zu sagen "Frauen sind ermordet worden", sollte es heißen: "Männer haben Frauen ermordet". Nicht: Gewalt gegen Frauen, sondern: Gewalt der Männer gegen Frauen. 90 Prozent der Mörder seien Männer. 97 Prozent der Sexualstraftäter seien Männer. 87 Prozent der Kriminaldelikte würden von Männern begangen, sagt Hemmings. Da müsse die ganze Gesellschaft ansetzen, das Zuhause, die Kindergärten, die Schulen.
Die Labour-Abgeordnete Jess Phillips bezeichnete Gewalt gegen Frauen als "Epidemie", zu deren Bekämpfung eindeutig mehr Ressourcen eingesetzt werden müssten als bisher.