Polen und Ungarn klagen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die neue Rechtsstaatsklausel im EU-Budget. Das teilten die Regierungen in Warschau und Budapest am Donnerstag mit. Die obersten EU-Richter sollen prüfen, ob der im Jänner in Kraft getretene Mechanismus zur Kürzung von EU-Geldern bei bestimmten Rechtsstaatsverstößen zulässig ist. Die Machtprobe Ungarns und Polens mit der EU geht damit in die nächste Runde.
Der EuGH bestätigte am Donnerstag den Eingang der Klagen. Sie werden nach einer Vereinbarung der EU-Mitgliedstaaten dazu führen, dass der Sanktionsmechanismus vorläufig nicht angewendet wird.
Verstoße gegen EU-Recht?
"Wir können nicht zulassen, dass diese EU-Bestimmung, die ernsthaft gegen EU-Recht verstößt, in Kraft bleibt", schrieb die ungarische Justizministerin Judit Varga auf ihrer Facebook-Seite. Deshalb klage ihr Land zusammen mit Polen gegen die Rechtsstaatsverordnung. Man gehe davon aus, dass die derzeitige Lösung keine rechtliche Grundlage in den EU-Verträgen habe, sagte der polnische Regierungssprecher Piotr Müller. Sie beeinträchtige die Kompetenzen der EU-Staaten und verstieße gegen EU-Recht.
Die EU-Kommission nehme die Klagen zur Kenntnis, so ein Sprecher. "Wenn man die Debatte am Ende des vergangenen Jahres verfolgt hat, (...) ist das keine Überraschung."
Sorge um Kürzungen der EU-Mittel
Polen und Ungarn lehnen den neuen Rechtsstaatsmechanismus im mehrjährigen EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 ab. Sie befürchten, dass der Mechanismus darauf abzielt, ihnen wegen umstrittener politischer Projekte EU-Mittel zu kürzen. Beide Länder bekommen netto hohe Milliardenbeträge aus dem EU-Haushalt. Gegen beide läuft zugleich ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge wegen mutmaßlicher Missachtung von EU-Grundwerten.
Warschau und Budapest hatten wegen des Streits Ende 2020 zeitweise den neuen EU-Budgetrahmen inklusive der geplanten Corona-Hilfen mit einem Gesamtvolumen von 1,8 Billionen Euro blockiert. Als Kompromiss handelte Deutschland - damals als Ratsvorsitzland - eine Zusatzerklärung zum Rechtsstaatsmechanismus aus, die letztlich alle 27 EU-Staaten beim EU-Gipfel im Dezember akzeptierten. Zentraler Punkt war die Klarstellung, den Mechanismus vom EuGH überprüfen zu lassen. Ungarn und Polen hatten bereits angekündigt, davon Gebrauch zu machen. Polen setzt dies nun um.
Für die Entscheidung über solche sogenannten Nichtigkeitsklagen benötigt der EuGH im Schnitt 19 Monate. Damit würden Ungarn und Polen - aber auch anderen betroffenen EU-Ländern - frühestens Ende 2022 Sanktionen drohen. Die EU-Kommission und das Europaparlament haben aber bereits angekündigt, dass sie ein beschleunigtes EuGH-Verfahren beantragen wollen. Dieses wird normalerweise in rund zehn Monaten abgeschlossen.
Vertreter fast aller Fraktionen im EU-Parlament forderten die EU-Kommission am Donnerstag erneut auf, den Rechtsstaatsmechanismus ungeachtet des Gipfel-Kompromisses sofort anzuwenden. EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn wies Kritik einiger Abgeordneter an der Kommission bei einer Debatte im EU-Parlament zurück. Auch wenn der Sanktionsmechanismus bis zur Entscheidung von Klagen nicht angewendet werde, würden Verstöße auch rückwirkend ab dem 1. Jänner verfolgt, sagte der Österreicher, noch bevor Ungarn und Polen ihre Entscheidung ankündigten. "Alle Verstöße (...) nach diesem Datum werden behandelt. Kein Fall wird verloren gehen." Ähnlich hatte sich Kommissionschefin Ursula von der Leyen im Dezember geäußert.
Hahn warnte gleichzeitig vor überzogenen Erwartungen an das neue Instrument. Der Rechtsstaatsmechanismus sei kein "Allheilmittel", sagte er. Er könne nur dann zum Einsatz kommen, wenn "die Verwendung europäischer Steuerzahlergelder durch ein Defizit an Rechtsstaatlichkeit beeinträchtigt ist".
Die Zusatzerklärung zum Rechtsstaatsmechanismus erläutert auch, dass die Feststellung eines Rechtsstaatsverstoßes allein nicht ausreicht, um EU-Finanzhilfen zu kürzen. Vielmehr muss erwiesen werden, dass der Verstoß negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geld hat. In strittigen Fragen muss sich der Rat der Staats- und Regierungschefs mit dem Thema beschäftigen.
Befürworter des Rechtsstaatsmechanismus betonen, dass die rechtsnationalen Regierungen in Budapest und Warschau die EU-Gelder dazu missbrauchen würden, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abzubauen. "Hart erarbeitetes Steuergeld der Unionsbürgerinnen und -bürger darf nicht in Strukturen fließen, die jenseits der Rechtsstaatlichkeit sind", betonte der ÖVP-EU-Parlamentarier Lukas Mandl in einer Aussendung. Rechtsstaatlichkeit sei "keine langweilige bürokratische Sache". Rechtsstaatlichkeit mache Leben in Freiheit und Sicherheit erst möglich, so Mandl.