Beim Volkskongress in Peking tritt die chinesische Führung selbstbewusst auf. Die Rüstungsausgaben werden heuer um sieben Prozent erhöht, das Wirtschaftswachstum wird auf „mehr als sechs Prozent“ geplant. Staatschef Xi Jinping ruft das Militär zur „Kampfbereitschaft“ auf. Eine Demonstration der Stärke der neuen Supermacht?
BERNHARD BARTSCH: Die Rüstungsausgaben steigen seit Jahre stark an, die Erhöhung ist ein Ritual und ein Zeichen der Kontinuität. Der Grundtrend, dass sowohl der innere Staatsicherheitsapparat als auch die Volksbefreiungsarmee stärker ausgerüstet werden, ist seit Jahren klar. China hat außenpolitisch in den letzten Jahren mehr Konfliktzonen dazubekommen – mit Indien, vor allem aber im Südchinesischen Meer. All das bettet sich natürlich in die große Frage des Systemwettbewerbs mit den USA ein. China nimmt diesen Systemwettbewerb zunehmend ernst und versucht, sich auch sicherheitspolitisch als Macht in der Region zu etablieren.
Der US-Admiral Philip Davidson warnte kürzlich, er rechne damit, dass China in den nächsten Jahren Taiwan überfallen werde. Peking beansprucht Taiwan als Teil der Volksrepublik. Die USA gelten als wichtigster Verbündeter Taiwans. Wie groß schätzen Sie das Risiko eines Krieges ein?
In den USA wird zunehmend davon ausgegangen, dass sich die sicherheitspolitischen Gewichte rund um Taiwan fundamental zu verschieben drohen. Pekings politische und militärische Bereitschaft, den Status quo zu verändern, scheint zu wachsen, und Washington fühlt sich herausgefordert, die Glaubwürdigkeit seiner Sicherheitszusagen für Taiwan zu verteidigen. Wir müssen davon ausgehen, dass die Spannungen um Taiwan sich in den kommenden Jahren weiter zuspitzen werden. Persönlich halte ich eine offene Konfrontation in naher Zukunft für unwahrscheinlich, das wäre für beide Seiten viel zu gefährlich. Trotzdem dürfte Taiwan noch mehr zu einem zentralen Konfliktpunkt der amerikanisch-chinesischen Beziehungen werden. Dazu werden auch die EU-Staaten Stellung nehmen müssen. Sowohl Washington als auch Peking wird von den Europäern verlangen, sich klar zu positionieren. Darauf ist Europa bisher schlecht vorbereitet.
Während westliche Staaten durch Corona in der Rezession stecken, hat sich China vergleichsweise rasch erholt. Eine britische Studie besagt, China könnte schon 2028 volkswirtschaftlich die USA überholen und den Sprung an die Spitze schaffen. Ist das realistisch?
Wenn man es in dieser „Aufholjagd-Logik“ betrachten will, ist klar: China ist dank Corona jetzt noch schneller unterwegs, als es das ohnehin schon war. Aus europäischer Sicht bedeutet das, dass dies natürlich auch alle global agierenden europäischen Unternehmen wahrnehmen und sich geoökonomisch auch hierzulande die Gewichte schneller und stärker nach Asien verschieben. Gleichzeitig kommt aus den USA ein großer Druck, im globalen Ringen an der Seite Washingtons Stellung zu beziehen. Das wird für Europa zur großen Zerreißprobe werden, wie man sich denn nun gegenüber China aufstellt. Politisch möchte man das komplizierte Verhältnis gern entheddern, während man wirtschaftlich bereits sehr stark verflochten ist.
Wie soll sich Europa hier positionieren?
An sich hat Europa mit seinem Grundsatzpapier mittlerweile ja eine recht gute China-Strategie zurechtgelegt: die Idee, dass man China simultan als politischen und wirtschaftlichen Partner und auch als Rivalen wahrnehmen muss. Darin steckt aber natürlich auch ein sehr großes Spannungsverhältnis innerhalb der EU. Auf der einen Seite zieht China an uns, das durchaus freundliche, wenn auch nicht überschäumende Signale sendet, dass es bereit ist, die Partnerschaft. Auf der anderen Seite werden die USA auch unter Biden ihren Kurs des wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Wettbewerbs viel stärker fahren und eine gewisse Loyalität der Europäer einfordern. Das ist das Spannungsverhältnis, in dem Europa hier steht. Konkret haben wir es beim 5-G-Ausbau und Huawei gesehen, wo dann einzelne europäische Regierungen und Europa als Ganzes sich zwischen diesen beiden Machtblöcken wiederfinden, die politisch dann alles ausfahren, was sie ausfahren können. Solche Fälle werden in den nächsten Jahren viel mehr werden. Um es im Extrem zu denken: Wenn es sicherheitspolitisch zu einer Eskalation im Konflikt um Taiwan käme, würde das für Europa die 5-G-Debatte in hundertfacher Potenz bedeuten. Denn dann wird es nicht nur um die Anschaffung von Sendemasten gehen, sondern um sicherheitspolitische Loyalitäten. Und das ist ein Muskel, der in Europa seit langer Zeit nicht trainiert wurde. Dennoch müssen wir uns darauf einstellen, dass diese Themen politisch sehr real werden könnten.
Zugleich legt es Peking ja auch darauf an, sich nicht unbedingt nur an eine Ansprechstelle in Europa zu wenden.
Hier mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen, wäre für die Europäer gerade China gegenüber wichtig. Ich denke, der Trend geht schon dorthin, dass den meisten bewusst wird, wie die Chinesen versuchen, die Europäer auseinander zu dividieren. Und dass letztlich auch die großen deutschen oder französischen Unternehmen nicht wirklich langfristig in China gewinnen können, sondern dass Europa und die westlichen Märkte die viel verlässlicheren Rechtsrahmen bilden. China fährt mit seiner Industriepolitik 2025 letztlich einen Kurs, der darauf abzielt, die Rolle von ausländischen Unternehmen zurückzudrängen.
Beim Tauziehen um Impfstoff und Pekings Impfstoff-Diplomatie hat man noch nicht den Eindruck, dass Europa gegenüber China geeint auftritt.
Die Tatsache selbst, dass Ungarn chinesischen Impfstoff anschafft, der in den EU noch nicht zugelassen ist, ist per se ja noch keine Tragödie. Dennoch wird da das Spannungsfeld sichtbar, in das Europa geo-politisch gerät. Überall gibt es Partikularinteressen, und China spielt die aus, wo es nur kann. Es gibt ja den schönen Spruch, der zum Entsetzen der Chinesen immer wieder benutzt wird: Wenn die Chinesen möchten, dass die Europäer das Ein-China-Prinzip anerkennen, dann sollten die Chinesen auch das Ein-Europa-Prinzip anerkennen. Das ist aber natürlich auch Wunschdenken, denn so vehement leben wir das Ein-Europa-Prinzip natürlich nicht, wie Peking versucht, das eine China durchzusetzen.
Die Europäische Union definiert sich als Gemeinschaft, die auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten beruht. Wie geht das mit der Partnerschaft mit China zusammen? Gerade jetzt zum Volkskongress weisen viele auf die Situation der Uiguren in den Internierungslagern hin.
Gerade wenn man an die Region Xinjiang denkt, hat sich die Lage in China in diesem Bereich sehr verschlechtert. Auch die Art, wie China auftritt, wurde sehr viel robuster. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten der Europäer, auf Veränderung in China hinzuwirken, enger geworden. Das Instrumentarium dafür muss sich daher anpassen und feiner werden. Ich denke schon, dass es in der Diskussion um Lieferketten die Hebel gibt, mit denen man etwas bewirken kann. Etwa ein Drittel der weltweit verwendeten Baumwolle kommt aus Xinjiang. Da steht der Verdacht im Raum, dass in großem Stil Insassen von Umerziehungslagern als Zwangsarbeiter eingesetzt werden. Hier ist ein Lieferkettengesetz vielleicht doch eine Möglichkeit, Transparenz herzustellen. Man muss dann allerdings auch bereit sein, die Konsequenzen zu ziehen: Dann wollen wir diese Baumwolle auch tatsächlich nicht hier in Europa haben. Und das bedeutet dann einen Preisanstieg der Bekleidung in Europa, wenn alle Hersteller ihre Lieferketten auf die Herkunft ihrer Baumwolle durchzertifizieren. Ob da die Bereitschaft groß ist, das durchzuziehen, wage ich zu bezweifeln.
Der chinesische Durchgriff gegen die Demokratiebewegung in Hongkong hat gezeigt, dass sich Peking von Mahnungen aus dem Westen nicht beeindrucken lässt.
China fühlt sich zunehmend unangreifbar. Zum einen hat die Regierung ihre eigene Argumentationslinie – dass nämlich das Verständnis von Menschenrechten ein anderes sei. Wenn es dann darum geht, Menschenrechtsverletzungen in UNO-Gremien zu verurteilen, ist China gut aufgestellt, um Angriffe abzuwehren. Selbst innerhalb der EU schafft es Peking, einzelne Länder dazu zu bringen, eine Verurteilung der chinesischen Menschenrechtslage zu verhindern.
Unter Xi Jinping ist China repressiver geworden. Wofür steht der Staatschef, der sich selbst eine unbegrenzte Amtszeit ermöglicht hat?
Die Zuspitzung geschah unter Xi. Die Weichen dafür wurden aber schon vorher gestellt. So ist die Entscheidung, dass sich China ganz vom globalen Internet abkoppelt und dass es seine eigene Infrastruktur aufbaut, schon unter Hu Jintao gefallen. Daraus leiten sich die jetzigen Möglichkeiten der technischen Überwachung erst ab. Xi Jinping denkt da einen Überwachungsstaat weiter, dessen Voraussetzungen schon unter seinem Vorgänger geschaffen wurden. Was sich tatsächlich unter Xi verändert hat, ist, dass es überhaupt keine sichtbaren Meinungsunterschiede und Richtungskämpfe in der KP mehr gibt.
Will Xi China zur Supermacht Nr. 1 machen?
Das erste Ziel ist interne Kontrolle. Den Machtanspruch der KP sichern, mit all den Möglichkeiten, die es heutzutage gibt. Das Zweite ist der interne Druck, den China wahrnimmt, weil es jetzt die Möglichkeit hat, wirtschaftlich und technologisch groß voranzukommen. Wir blicken oft auf China als auf einen Staat, der vor lauter Kraft nicht laufen kann. Das ist nicht seine eigene Wahrnehmung. Die Chinesen sehen schon, dass sie mit der Überalterung der Bevölkerung oder umwelttechnisch eine Menge Probleme haben, die sich in ein paar Jahren sehr massiv auswirken werden. Jetzt ist die Zeit, um etwas zu bewirken. Und sie haben das Gefühl, jetzt auch die Macht zu haben, mit vielen Dingen durchzukommen. China ist WTO-Mitglied geworden und hat viele Vereinbarungen eigentlich nicht erfüllt. Es hat dennoch das WTO-System für sich genutzt und ist Teil der globalen Wirtschaft geworden. Gleichzeitig hat Peking begonnen, sein massives Gewicht zu nutzen, um auch die globale Wirtschaft in seine Richtung zu prägen. Erst in den letzten Jahren ist bei den anderen Ländern, vor allem in den USA, nicht nur das Bewusstsein gestiegen, dass das auf die Dauer ein Problem wird, sondern es ist auch die Bereitschaft gewachsen, dem etwas entgegenzusetzen.
Es gibt auch die These, dass die Chinesen gar keine „Weltführerschaft“ anstreben, sondern einfach freie Hand haben wollen.
Die Weltführerschaft ist für China sicher kein Selbstzweck. Die Chinesen sehen sich, zumindest derzeit, nicht als ein Land, das möchte, dass andere Länder so wie China werden. Das ist nicht ein Systemkonflikt, wie wir ihn beim Ost-West-Konflikt sahen. China möchte nicht kommunistische Parteien in Europa verbreiten. Peking hat in erster Linie ein wirtschaftliches Verhältnis zu seinen Partnern. China möchte sich Ressourcen sichern, es möchte mit seinen Produkten auf die Weltmärkte; China möchte reich werden. Dafür braucht es Partner und Märkte, die versucht es sich zu sichern. Natürlich geht es ihm letztlich um den Wohlstand im eigenen Land. Aber sie haben einen Führungsanspruch, zumindest für die Region und die erweiterte Nachbarschaft – auch militärisch und institutionell, mit Militärbasen. Das ist schon mehr als einfach Handelsverträge. China erwirbt aber auch Ländereien in Afrika oder in Lateinamerika, um Ressourcen abzusichern und die Zufuhr von Lebensmitteln zu sichern. Letztlich geht es Peking darum, eine möglichst breite geo-ökonomische Basis für den eigenen Wohlstand aufzubauen. Da denken die Chinesen sehr langfristig, und da ist ihnen die Welt gerade mal groß genug.