Martin (43 Jahre), Stanislav (41), Miroslav (57), Ivana (61), David (39). Nur einige der Covid-Toten eines Tages in der westlichsten Stadt Tschechiens, dem etwas über 20.000 Einwohner zählenden Cheb. Auf den Todesanzeigen in einem speziellen Schaukasten am Markt steht jeweils das Begriffspaar „plötzlich und unerwartet“.
Solche Todesanzeigen - tschechisch: parte - haben lange Tradition. Sie gab es schon, als Böhmen, Mähren und Schlesien noch zum Habsburger Reich gehörten. Todesanzeigen in Zeitungen sind in Tschechien dagegen nicht üblich. Glück im Unglück für die Blätter. Derzeit würden sie dort einen solch großen Raum einnehmen, dass kaum noch journalistische Beiträge erscheinen könnten. Außerdem sind es die Menschen gewöhnt, an den Schaukästen vorbeizuschauen, um zu erfahren, wer von den Mitbürgern seinen letzten schweren Gang hinter sich bringen musste.
Massive Übersterblichkeit
Verantwortlich für die Anzeigen sind die jeweiligen Beerdigungsinstitute. Die kommen derzeit kaum hinterher, die Todesnachrichten zu wechseln. „Seit den Bombardements im Frühjahr 1945 hat es bei uns nie wieder so viele Tote gegeben“, sagt der Bestatter Petr Elizeus dem Reporter einer großen Prager Zeitung. „Normalerweise haben wir hier monatlich 45 Tote. In Zeiten einer normalen Grippe auch schon mal 60. Jetzt im Jänner hatten wir mehr als 150, in der ersten Februarhälfte schon 105.“ Elizeus hat bei all dem nur über die Zahlen seines eigenen Bestattungsinstituts gesprochen. Es gibt aber mehrere davon in Cheb.
Neu bei den Toten von Cheb ist, dass sie immer jünger werden. „Es sterben 45-Jährige, 50-Jährige, ich kenne auch 35-Jährige“, sagt der stellvertretende Bürgermeister, Jiří Černý, der den Ärzten hilft, selbst auf einem Sanitätswagen fährt. „Die Menschen stecken sich an, nach drei, vier Tagen müssen sie ins Krankenhaus und dort sofort an ein Sauerstoffgerät. Früher lagen Infizierte wochenlang zu Hause mit Fieber im Bett. Jetzt geht das alles sehr viel schneller. Das Virus sorgt sofort für einen schweren Verlauf.“ Vor ein paar Tagen hatte er einen Patienten, der noch zu Fuß aus seiner Wohnung zum Rettungswagen lief. Als Černý seinen 24-Stunden-Dienst beendet hatte, hörte er, dass der Mann bereits gestorben sei. Binnen Stunden.
Tschechien plant nun härteren Lockdown
Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis hat eine deutliche Verschärfung der Corona-Maßnahmen angekündigt. Man müsse eine "totale Katastrophe in den Krankenhäusern" abwenden, sagte der 66-Jährige am Mittwoch. Über die Details sollte im Laufe des Tages mit der Opposition sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern beraten werden. Konkret wurde Babis nicht, sagte aber: "Wenn es keinen Kontakt gibt, kann auch keine Übertragung stattfinden."
Der Regierungschef sprach sich für eine Verlängerung des Notstands aus, der am Montag ausläuft. Unklar ist, ob die Minderheitsregierung dafür eine Mehrheit finden kann. Eine baldige Öffnung der Schulen schloss Babis aus. Im Raum stehen regelmäßige Tests in den Firmen. Unterdessen wurde bekannt, dass Israel dem stark betroffenen Partnerland 5000 Impfdosen zur Verfügung stellt.
Spitäler kollabieren
Das Krankenhaus von Cheb ist mittlerweile kollabiert. Kürzlich wurden noch neue Patienten eingeliefert und rasch durchgecheckt. Durch einen Hinterausgang wurden dann andere, nicht ganz so schlimme Fälle in andere Krankenwagen verfrachtet und in Kliniken gebracht, die noch Reserven hatten. Erst im Karlsbader Kreis, längst auch schon durch ganz Tschechien. Im Kreis selbst gibt es keine freien Betten mehr. Eine Anlaufstation war bislang die Klinik im mittelböhmischen Slaný.
Doch auch dort muss man sich mittlerweile mit der gefürchteten Triage abfinden. „Wir Ärzte müssen entscheiden, wen wir noch behandeln können und bei wem die Prognosen schlechter sind. Letztere bekommen nicht mehr die Behandlung, die sie eigentlich benötigen würden“, sagt der Chef des Klinikums, Štěpán Votroček. Es ist das erste Mal in der Geschichte der tschechischen Medizin, dass eine solche Auswahl massenhaft vorgenommen werden muss. „Es ist auch für uns Ärzte sehr schwer, damit umzugehen“, sagt der Klinikchef betroffen. Kein Wunder: er und seine Kollegen müssen hier de facto wider Willen Todesurteile fällen. Es sterben freilich auch neun von zehn Patienten, die in den Kliniken auf Sauerstoff angewiesen sind.
Von der Außenwelt abgeschnitten
Der Karlsbader Kreis gehört zu drei Kreisen, die seit einigen Tagen von der Außenwelt faktisch abgeschnitten sind, weil sie Inzidenzen von mehr als 1000 hatten. Gebracht hat das bislang nichts. Tests bestätigen einen sehr großen Anteil der britischen Mutation des Virus. Und die verbreitet sich jetzt von West nach Ost ins tschechische Landesinnere. Der Bezirk Pilsen steht auf der Kippe zur Isolation, andere werden folgen, glaubt selbst das zuständige Ministerium. Gesundheitsminister Jan Blatný sieht auch keinen Nutzen mehr in strengeren Vorschriften. „Es liegt nun an jedem Einzelnen.“ Tschechische Journalistenkollegen übertrugen diese ernüchternden Worte in noch drastischere: „Rette sich, wer kann“.
Rettung könnte aus den im Grenzbereich liegenden deutschen Kliniken kommen, etwa in Waldsassen, Selb oder Hof. Die sind quasi um die Ecke. Der Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes, Michael Kretschmer (CDU), bekräftigte gerade gegenüber dem tschechischen Fernsehen das lange bestehende Hilfsangebot. Jetzt reagierte zum ersten Mal auch Premier Andrej Babiš darauf: „Wenn der Bezirkschef von Karlsbad Hilfe braucht, soll er es mir sagen. Ich rufe dann den sächsischen Premier an. Aber erst einmal muss ich eine solche Bitte kennen.“ Karlsbads Bezirkschef Petr Kulhánek brachte das in Rage: „Ich bitte seit Anfang des Jahres um solche Hilfe. In gemeinsamen Videokonferenzen und in Telefonaten mit dem Gesundheitsminister.“
Der Politologe Petr Kratochvíl nennt das Zögern Prags in der „deutschen“ Frage „nationalistisch und ideologisch begründet“. Wie zur Krönung dessen bat Premier Babiš letzte Woche die Regierungschefs zweier anderer Länder um Hilfe: die Polens und Ungarns.
Zahlen
Das Gesundheitsministerium in Prag meldete am Mittwoch 15.672 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden. Mehr als 6.800 Patienten waren in Krankenhäusern in Behandlung, davon mehr als 1.300 auf den Intensivstationen. Seit Beginn der Pandemie gab es mehr als 1,1 Millionen nachgewiesenen Infektionen und 19.682 Todesfälle. Tschechien hat rund 10,7 Millionen Einwohner.