Wie soll ein Volk einen Herrscher loswerden, der sich von einer "Wahl" zu nächsten die Amtszeit verlängert und Proteste mit brutalster Repression niederschlägt? Die Weißrussen haben in den vergangenen Monaten zu Hunderttausenden ihr Leben und ihre Freiheit riskiert, doch Alexander Lukaschenko scheint weiter fest entschlossen, den Scheidungswillen seines Volkes auszublenden und auszusitzen. Jetzt wurden gegen die im September vom KGB entführte Oppositionsführerin Maria Kalesnikava (Kolesnikowa), einst Teil der Frauen-Trios rund um Swetlana Tichanowskaja, Anklage wegen Extremismus und Verschwörung erhoben. Ihr drohen zwölf Jahre Haft. Sie selbst weist die Vorwürfe als politisch motiviert zurück.
Nach mehr als 30.000 Festnahmen, hunderten Verletzten, mehreren Toten, zahllosen Gefolterten und Vergewaltigten hat Lukaschenko die junge Generation, die das Land erneuern will, schwer traumatisiert und sein Land in einen Polizeistaat verwandelt. Kalesnikava (wie sie selbst ihren Namen auf Deutsch schreibt) will sich dennoch nicht einschüchtern lassen. Es sei trotz allem richtig gewesen, sich der Opposition anzuschließen, schrieb sie kürzlich in einer Stellungnahme, die auf ihrem Facebook-Account veröffentlicht wurde. Trotz der Inhaftierung habe sie ihre innere Freiheit gefunden und sei sich selbst treu geblieben, schrieb Kalesnikava. Trotz Androhung der Anklage erhob sie im Herbst Anzeige gegen ihre Entführer. Darin nannte sie auch die Namen der Beamten, die sie bedroht und ihr einen Sack über den Kopf gezogen haben. Schon damals fürchteten viele ihre Unterstützer die Rache des Geheimdienstes.
Politik war lange nicht ihr Ziel. Kalesnikava ist Profi-Flötistin und Dirigentin. Sie studierte in Minsk und an der Stuttgarter Musikhochschule und spricht fließend Deutsch. Nun stieg sie zur Frontfrau der oppositionellen Bewegung auf, nachdem ihre beiden Mitstreiterinnen, mit denen sie im Wahlkampf als Trio aufgetreten war, das Land auf Druck des Regimes verlassen haben. Dass ihr die Verhaftung droht, wusste sie. „Mich stoppt das nicht und macht mir keine Angst“, sagte sie erst kürzlich in einem Interview. „Denn ich weiß, dass die Prozesse, die in der weißrussischen Gesellschaft begonnen haben, unumkehrbar sind.“
Die EU hält die Präsidentenwahl von 2020 für gefälscht und erkennt Lukaschenko nicht mehr als Präsidenten an. Es wurden Sanktionen verhängt. Doch Lukaschenko hängt am finanziellen Tropf Moskaus, und dort wird letztlich auch die Entscheidung fallen, wie es in Minsk weiter geht. Und das könnte noch lange dauern: Auch in Russland gab es nach der Rückkehr Alexej Nawalnys lautstarke Proteste gegen die Staatsmacht. Auch dort kämpft diese mit allen Mitteln dagegen an. Kaum vorstellbar, dass Wladimir Putin in absehbarer Zeit zulassen wird, dass sich in Minsk ein demokratisch orientierter Machtwechsel vollzieht.