"Als Erdogan 2002 die Regierung übernahm, saßen rund 60.000 Häftlinge in den Gefängnissen, heute sind es beinahe 300.000 – ein Anstieg, wie er nicht einmal nach Militärputschen vorkommt", analysierte kürzlich Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung "Cumhuriyet", der seit 2016 im Exil in Deutschland lebt, in der "Zeit".
Der türkische Präsident reagiert auf Widerstand stets mit Repression: Die Studierenden der Bogazici-Universität, der Bosporus-Universität, protestieren wie berichtet seit Anfang Jänner gegen den von Präsident Recep Tayyip Erdogan eingesetzten neuen Rektor Melih Bulu. Die Studierenden kritisieren unter anderem Bulus Nähe zur Regierungspartei AKP. Sie verurteilten die Ernennung aber auch als undemokratisch und gegen die Tradition der Universität, ihre Direktoren selbst zu wählen.
Am Dienstagabend löste die Polizei einen Protest im Istanbuler Stadtteil Kadiköy unter anderem mit Tränengas und Plastikgranaten auf. Auch in Ankara gab es Solidaritätsproteste und Festnahmen.
Eine neue Verfassung für das Land
Nun will Recep Tayyip Erdogan seinem Land ein neues Grundgesetz geben. Dazu braucht er die Unterstützung seines ultra-nationalistischen Koalitionspartners Devlet Bahceli. Das lässt für die Freiheitsrechte nichts Gutes erwarten.
Erst 2018 hat die Türkei eine große Verfassungsreform umgesetzt. Aus der parlamentarischen Republik wurde ein Präsidialsystem – maßgeschneidert für Erdogan, der seine Machtbefugnisse damit erheblich ausweiten konnte. Seither führt er die Türkei quasi im Alleingang, als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Vorsitzender der Regierungspartei in einer Person. Die Abgeordneten der Großen Nationalversammlung wurden dadurch zu politischen Statisten.
Aber offenbar ist Erdogan immer noch unzufrieden mit dem Grundgesetz. „Vielleicht ist es an der Zeit, wieder über eine neue Verfassung zu diskutieren“, sagte er am Montag in einer Fernsehansprache. Er wünsche sich ein „ziviles“ Grundgesetz, die gegenwärtige Verfassung enthalte „Spuren militärischer Vormundschaft“.
Das stimmt. Die geltende Verfassung wurde in ihren Grundzügen 1982 während der damaligen Militärdiktatur konzipiert. Sie wurde seither mehrfach geändert und ergänzt, am tiefgreifendsten durch den 2017 beschlossenen und 2018 in Kraft getretenen Übergang zum Präsidialsystem. Aber in vielen Passagen trägt das türkische Grundgesetz immer noch die Handschrift der Generäle.
Welche Änderungen er sich genau wünscht, ließ Erdogan offen. „Wenn wir Einvernehmen mit unserem Allianzpartner erreichen, könnten wir in nächster Zeit aktiv werden“, sagte der Staatschef. Gemeint ist die ultra-nationalistische MHP, mit der die Erdogan-Partei AKP in einer Koalition regiert. Die MHP ist die Mutterpartei der berüchtigten „Grauen Wölfe“. Ohne ihre Zustimmung hat Erdogan für das Projekt keine Mehrheit. Aber MHP-Chef Devlet Bahceli hat seine eigene Agenda: Er propagiert die Wiedereinführung der Todesstrafe und will die pro-kurdische Oppositionspartei HDP verbieten. Das benachbarte Griechenland bezeichnet Bahceli als einen „bösartigen Tumor“, den man „um jeden Preis ausmerzen“ müsse. Vergangenes Jahr preschte Bahceli mit der Idee vor, die Kompetenzen des türkischen Verfassungsgerichts zu beschneiden.
In eine ganz andere Richtung gehen die Vorstellungen von Ali Babacan. Der AKP-Mitbegründer und frühere Wirtschaftsminister sagte sich 2019 von Erdogan los und gründete die Demokratie- und Fortschrittspartei (DEVA). Babacan kündigte im vergangenen November Pläne für eine Verfassungsreform an. Sie soll nach seinen Worten die Gewaltenteilung tiefer verankern und die Rolle des Parlaments stärken. Das Präsidialsystem lehnt Babacan ab, weil es zu Machtmissbrauch führe. „Wir brauchen eine gesamtheitliche Lösung, eine politische Reform, die Menschrechte, Grundfreiheiten und die Unabhängigkeit der Justiz sichert“, sagte Babacan der Zeitung „Karar“.
Mehr Freiheit ist unwahrscheinlich
Dass Erdogans und Bahcelis neue Verfassung die Erosion der Demokratie in der Türkei stoppen und den Menschen mehr Freiheitsrechte bescheren könnte, ist allerdings unwahrscheinlich. Dagegen spricht auch das gegenwärtige Klima. Die Unruhen an der Bogazici-Universität, wo Studierende und Professoren seit nun drei Wochen gegen einen von Erdogan eingesetzten regierungstreuen Rektor protestieren, drohen zu eskalieren. Studenten und Hochschullehrer fürchten, Erdogan versuche mit der Ernennung des Rektors, eines früheren Politikers der AKP, die linksliberal geprägte Universität auf Regierungslinie zu bringen.
Am Montag nahm die Polizei vor dem Campus 159 Demonstranten fest. Sie hatten versucht, eine Pressekonferenz zu veranstalten. 60 von ihnen befanden sich am Dienstag noch im Polizeigewahrsam, 99 waren wieder frei. Am Samstag hatte die Polizei vier Studenten im Zusammenhang mit einem Poster festgenommen, das die Kaaba in Mekka und eine Regenbogenfahne zeigt, das Symbol der LGBT-Bewegung. Gegen zwei Studierende ergingen Haftbefehle. Erdogan bezeichnete die Demonstranten als „Terroristen“. Der Begriff LGBT ist eine aus dem englischen Sprachraum übernommene Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender).
Gülen
Auch die „Säuberungen“, mit denen die Regierung gegen mutmaßliche Anhänger des in den USA lebenden Exil-Predigers Fethullah Gülen vorgeht, werden fortgesetzt. Am Dienstag erließ der Istanbuler Oberstaatsanwalt Haftbefehle gegen mehr als 290 aktive und ehemalige Soldaten, denen Verbindungen zu Gülen zur Last gelegt werden. Die Regierung sieht in Gülen den Anstifter des gescheiterten Militärputsches vom Juli 2016. Der Geistliche selbst bestreitet jede Beteiligung an dem Putschversuch.