Der Neuschnee in Moskau ist trockener als vorigen Samstag, aber man kann noch gute Schneebälle daraus machen. Trotzdem denkt jetzt keiner an eine Schneeballschlacht. Hunderte Menschen marschieren durch die Hinterhöfe am Moskauer Gartenring, um die Polizeisperren Richtung Leningrader Bahnhof zu umgehen. „Ich will, dass Alexei Nawalny Präsident wird. Aber ich weiß nicht, ob er ein guter Präsident wird“, philosophiert Pjotr, ein 57-jähriger Physiker, der neben mir durch den Schnee stapft. „Nawalny ist nicht Merkel.“

Am Sonntag sind in Moskau und anderen russischen Städten wieder Zehntausende auf die Straße gegangen. Für die Freilassung des Oppositionsführers Alexei Nawalny. Und gegen den „Bunker-Opa“, wie ein handgemaltes Plakat Wladimir Putin betitelte. In Moskau meldet die Polizei 2000 Teilnehmer. Nach meiner Einschätzung waren mindestens zehntausend Menschen unterwegs. Vielleicht auch doppelt so viel. Die Menge ist zu zersplittert für nur annähernd genaue Zahlen. „Heute“, seufzt Pjotr der Physiker, „hat die Polizei es leicht, zu lügen.“

Aber wie schon vor einer Woche gibt es brutale Bilder von Massenfestnahmen. In Moskau zwingen Polizisten einen jungen Mann mit einem Elektroschocker zu Boden. Wieder schlagen sie mit ihren Holzknüppeln Leuten die Schädel blutig. Am Abend meldet die Nichtregierungsorganisation OVD-Info im ganzen Land über 4000 Festnahmen, darunter zeitweise auch Nawalnys Frau. Damit scheint der russische Antirekord von gut 4000 Festnahmen vom Samstag gebrochen. Und als auf dem Sennaja-Platz in Petersburg doch Schneebälle fliegen, setzen die Gesetzeshüter Tränengas ein, verprügeln auch Journalisten. Auf der Moskauer Prachtstraße Twerskaja zündet sich ein Mann selbst an.

Nervöse Moskauer Behörden

Die Moskauer Behörden wirkten schon vorher nervös. Nawalnys Stab hatte den Lubjanka-Platz zum Treffpunkt ausgerufen. Er liegt zwischen dem Hauptquartier des Staatssicherheitsdienstes und der Präsidialverwaltung, der Rote Platz ist greifbar nahe. Sieben Metrostationen wurden am Morgen geschlossen, der halbe Stadtkern für Fußgänger gesperrt, Waffengeschäfte dichtgemacht. Als wollten sich die Regimegegner mit Pumpguns eindecken und den Kreml stürmen.

Am frühen Nachmittag werden neue U-Bahn-Stationen gesperrt, immer neue grauschwarze Phalanxen der Einsatzpolizei bauen sich vor den Menschen auf, die sich erst zum Untersuchungsgefängnis Moskowskaja Tischina bewegen, wo Nawalny sitzt. Und dann wieder zurück zum Leningrader Bahnhof. Der martialische Aufwand, den die Staatsmacht betreibt, gibt den Protesten ihr eigenes Gewicht. Schon droht das kremlnahe Portal Life, man werde die Festgenommenen nach Tula oder Rjasan schaffen, mangels Platz in den Moskauer Arrestzellen …

"So kann es nicht weitergehen im Land"

„So kann es nicht weitergehen im Land, wir müssen auf die Straße gehen“, sagt Ilja, ein Informatikstudent, vor dem Leningrader Bahnhof. Aber viele Kommilitonen hätten Angst um ihren Studienplatz. „Haben Sie mich aufgenommen?“, fragt er dann ängstlich. „Können Sie das bitte wieder löschen? Sonst erkennt jemand meine Stimme.“

Auch Nawalnys Anhänger haben ihr Ziel nicht erreicht. Hundert Millionen Menschen hätten seinen Enthüllungsfilm über Putins Palast gesehen, sagte Nawalny in der Vorwoche in der U-Haft. Schon wenn zwei Prozent davon auf die Straße gingen, würde das den Staatschef und dessen Umgebung zur Besinnung bringen. Fraglich, ob gestern 0,2 Prozent des Nawalny-Youtube-Publikums auf Russlands Straßen gewesen sind. Am vergangenen Samstag hatte die BBC Kundgebungen in 122 Städten gezählt. Gestern standen noch gut 60 auf der Facebook-Veranstaltungsliste des Nawalny-Teams. Das Portal tayga.info meldete aus Nowosibirsk 5000 Teilnehmer, etwa tausend mehr als am 23. Jänner. In Tomsk, Krasnojarsk und Wladiwostok demonstrieren dagegen nur mehrere Hundert, in Jakutsk zwanzig. Allerdings bei 43 Grad Frost. Aber auch in „wärmeren“ Städten wie Ischewsk oder Lipezk zählten unabhängige Medien nur dreistellige Teilnehmerzahlen.

Was auch auf die massiven Repressalien zurückzuführen ist, allein drei Viertel der Regionalstabschefs Nawalnys landeten nach Angaben seines Mitstreiters Leonid Wolkow hinter Polizeigittern. Auch zahlreiche regionale Journalisten wurden als mutmaßliche Aufwiegler verwarnt oder festgenommen.

Ein Volksaufstand ist nicht in Sicht

Beim Versuch, die Polizei-Phalanx an der Rukasowskaja zu umgehen, geraten etwa 300 Demonstranten in ein verschneites Labyrinth aus Lager- und Fabrikhallen. Ein Mann mit Dreitagebart säubert eine Autowindschutzscheibe vom Schnee: „Wo wollt ihr denn alle hin?“, ruft er den Demonstranten zu. – „Wir sind für Nawalny unterwegs!“ – „Nawalny, wer ist das denn?“ – „Der sitzt im Gefängnis, wir wollen, dass er rauskommt.“ „Aha“, der Mann staunt, „wenn ihr nichts anderes zu tun habt …“ Ein wirklicher Volksaufstand ist in Moskau noch nicht in Sicht.