Sie haben heute wieder einen Protest-Tag in Moskau vor sich, auch vorigen Samstag standen Sie mit tausenden Unzufriedenen auf dem Puschkin-Platz, um für die Freilassung Nawalnys zu demonstrieren. Es gab viele Festnahmen. Fürchten Sie sich, dass Ihnen etwas geschieht?
NINA CHRUSCHTSCHOWA: Keine Minute. Ich bin nicht mehr jung und ich stelle mich nicht mitten in die Menge und werfe Schneebälle auf die Polizei. Es ist eine falsche Annahme, dass die Sicherheitskräfte angreifen, wenn man einfach nur dort steht. Ich gehe seit drei Jahren regelmäßig zu den Protesten.
Was ist Ihr Anliegen?
Ich will meine Meinung ausdrücken und ein Zeichen setzen. Aber ich lasse mich nicht auf Kämpfe ein. Die Polizei in Russland war bei den Protesten nicht gewalttätiger als die Sicherheitskräfte in anderen Ländern. An manchen Stellen haben die Polizisten sogar ihren Kaffee mit den Demonstranten geteilt. Allerdings wurden diesmal ganz gezielt Internet und Soziale Medien blockiert, wo sich die Demonstranten organisieren – wie es China in Hongkong oder Lukaschenko in Minsk tut.
Es sieht so aus, als sei durch die Vergiftung Nawalnys und seine Rückkehr in der starren russischen Politik etwas in Bewegung geraten. Sehen wir den Beginn eines „Russischen Frühlings“?
Die Proteste vorige Woche, zu denen Nawalny aufgerufen hatte, waren stark, aber es gab 2012 viel größere, ohne dass sich etwas geändert hätte. Russland ist ein riesiges Land; es ist nicht Prag mit seinem Frühling, wo alles an einem Platz und relativ rasch geschieht. Ein Frühling über elf Zeitzonen kann länger dauern. Trotzdem gibt es einiges, was bei den Protesten jetzt neu ist. Erstmals sind in ganz Russland Menschen zusammengekommen, um nicht, wie sonst, hier gegen ein Umweltproblem und dort gegen die Inhaftierung eines lokalen Journalisten zu protestieren. Sie standen da mit der gleichen Botschaft: „Lasst Nawalny frei!“, und: „Wir haben genug - Putins Zeit ist vorbei.“ Diese landesweite Einigkeit ist neu. Verändert hat sich auch die Haltung der Staatsmacht: Anders als früher wird derzeit jeder, der für Nawalny Partei ergreift, als Feind betrachtet. Wer zu den Protesten geht, ist nicht einfach Anhänger der Opposition, sondern ein potenzieller Verräter. Und das dritte Element, das neu ist, ist eines, das daraufhin deutet, dass diese Proteste so schnell nicht aufhören werden: Zum ersten Mal seit 20 Jahren gibt es mit Nawalny wirklich einen Anführer der Opposition.
Doch er sitzt im Gefängnis und weiß nicht, ob er dort jemals wieder herauskommen wird.
Seine Rückkehr und die Proteste haben eines bereits erreicht: Nawalny ist von einem regionalen, nur mäßig populären Oppositionellen zu einer weltweit bekannten Figur geworden. Was seinen internationalen Status betrifft, hat er mit Putin gleichgezogen: Er spricht mit Staats- und Regierungschefs – wahrscheinlich öfter, als es Putin derzeit tut; und diese hören mehr auf Nawalny als auf Putin. Es ist etwas passiert, das in Russland oft geschieht: Der Staat versucht etwas zu verhindern und muss letztlich ärgerlich zu Kenntnis nehmen, dass das Gegenteil eintritt. Wer immer den Giftanschlag in Auftrag gab – und ich glaube nicht, dass es Putin war, sondern jemand von den Sicherheitskräften, der dachte, es wäre gut, Nawalny loszuwerden – erlebt nun genau das: Zuerst versuchen sie, ihn kleinzureden, dann zu vergiften, dann festzunehmen und in einem Schnellverfahren auf der Polizeistation zu verurteilen – doch jeder dieser Schritte hat Nawalny als Politiker nur weiter aufgewertet. Sie haben ihn zum Helden und Märtyrer gemacht, dem die Leute zuhören. Die Rechtsbrüche des Staates aber haben eine Grenze überschritten und viele empört.
Es gibt einige Liberale, die Nawalny misstrauen und ihm Nähe zu Rechtsextremen vorwerfen. Ein russischer „Vaclav Havel“ ist er wohl eher nicht.
Ja, es stimmt, dass Nawalny in Verbindung zu den russischen Nationalisten und „Russland zuerst“-Gruppen stand. Aber das ist lange her. Er hat seit mindestens zehn Jahren keine Themen dieser Art vorgebracht. Daher nehme ich an, er hat sich davon verabschiedet. Nein, er ist kein Havel, kein Intellektueller und kein Liberaler im klassischen Sinn. Aber Russland ist auch nicht die Tschechoslowakei von 1968. Auch Nawalny tritt für ein starkes Russland und einen starken Staat ein, für ein Russland, das ein Partner des Westens sein kann, aber sicher nicht dessen Lakai – und das ist einer der Charakterzüge, die seine Anhänger an ihm schätzen. In den USA besteht immer noch die Haltung: Entweder du folgst uns und bist auf unserer Seite, oder du bist ein Feind. Russland wird niemals den USA folgen, ganz egal, wer Präsident im Kreml ist. Washington sollte das einzusehen.
Hat Nawalny das Potenzial, Putins Macht zu gefährden? In einigen Klassenzimmern tauschen die Schüler bereits die Bilder aus.
Manche Leute rufen ihn tatsächlich schon zum nächsten Präsidenten aus. Ich glaube aber nicht, dass er die geringste Chance hat, es zu werden.
Dennoch scheint jetzt, nach Jahren politischer Apathie, ein Wunsch nach Wandel da zu sein, zumindest bei den Jüngeren.
Es ist eine deutliche Putin-Müdigkeit zu beobachten, und ein enormer Wunsch nach Veränderung. 20 Jahre: Putin ist jetzt länger an der Macht als Breschnew, in dessen Amtszeit ich damals aufgewachsen bin – und schon damals erschien das wie eine Ewigkeit. Auch mit Putin haben viele das Gefühl, er bleibt für immer. Aber ich glaube nicht, dass die Straßenproteste einen Wechsel bringen werden.
Manche bezweifeln, dass er noch die volle Kontrolle hat.
Es gibt viele Gerüchte – Putin sei schwach, Putin leide an Demenz oder Sonstigem. Aus meiner Sicht gibt es ein Körnchen Wahrheit in der Beobachtung, dass Putin sich aus der Tagespolitik stärker heraushält. Wir alle kannten ihn bisher als geschickten Taktiker, als „Judo-Meister“, der die Schwächen seiner Gegner kennt und nützt – man denke an Syrien, die Ukraine. All das war anders in letzter Zeit. Damit will ich nicht sagen, dass er gar keine Entscheidungen mehr trifft oder bereits Geisel gewisser Kräfte wäre, nein. Aber er scheint nicht mehr am Tagesgeschäft interessiert zu sein. Der Staat beschützt den Putinismus. Wenn wirklich Putin noch für alles verantwortlich wäre, dann wären die Entscheidungen über den Umgang mit Nawalny cleverer ausgefallen. Es ist klar, dass hier der Apparat für ihn entschieden hat.
Auf welche Weise kann es in Russland überhaupt noch zu Veränderungen der Machtverhältnisse oder des Systems kommen?
Im Westen glaubt man, Russland müsse nur Putin loswerden, dann würde es ein demokratischer Staat nach westlichem Vorbild. Russland wird nie so werden – weil es ein riesiges Land ist und andere nationale Interessen vertritt. Geredet wird in Moskau derzeit viel über eine mögliche Palastrevolution. Das muss nicht blutig oder mit Festnahmen enden, sondern könnte auch ein friedlicher Übergang sein – etwa wie 1964, als mein Großvater Nikita Chruschtschow abgesetzt wurde und Breschnew an die Macht kam. Oder wie der Wechsel von Boris Jelzin zu Wladimir Putin, als Jelzin ihn am 31. Dezember 1999 plötzlich als seinen Nachfolger präsentierte.
Und wer könnte da eines Tages nach Putin kommen?
Das wissen wir noch nicht. Allerdings fällt auf, dass Dmitrij Medwedew, der einst Premier-Minister war und dann als Statthalter für Putin das Präsidentenamt übernahm, jetzt plötzlich wieder da ist. Eigentlich hatten wir ihn in Russland schon längst vergessen. Auf einmal ist es jetzt Medwedew, der eine Rede hält und auf die Wahlen in den USA reagiert.
Auch Medwedew wurde von Nawalny in einem Enthüllungsvideo über seine Villen und Yachten bloßgestellt und ist unbeliebt.
Das hat wenig zu bedeuten. Der Apparat kann jederzeit gute Umfragewerte für ihn schaffen, indem man dem Volk erzählt: Was waren das doch für schöne Zeiten unter Medwedew, als wir entspanntere Beziehungen zum Westen hatten und dieser in Russland investiert hat. Wir brauchen Medwedew wieder. Es wäre so eine Art „Tauwetter“, mit weniger Kontrolle und etwas mehr Öffnung. Diese könnte dann unter Erhalt des Systems und des Putinismus stattfinden. Ob das aber der Wandel ist, den sich die Menschen bei den Protesten wünschen, steht auf einem anderen Blatt.