Seit der Verhängung einer strengen nächtlichen Ausgangssperre in den Niederlanden am Samstag überziehen Randalierer 15 Städte Abend für Abend mit Aufruhr und Plünderungen. Die zu Gewaltexzessen verkommenden Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, die in den niederländischen Medien als „Sperrstundenunruhen“ („Avondklokrellen“) bezeichnet werden, werfen zunehmend die Frage auf, ob sich dahinter tiefer sitzende Verwerfungen in der Gesellschaft verbergen oder schlicht der Frust über die Regierung von Premier Mark Rutte.
Das sei ein Cocktail aus Meinungen, Frust, Wut und Angst, sagt der niederländische Politikwissenschaftler Jelle van Buuren von der Universität Leiden dem „NRC Handelsblad“. Auf der Straße mischen sich Impfgegner, Hippies, Rechtsradikale, Fußballhooligans, Wutbürger, Verschwörungsmystiker und Jugendliche. Die Menschen verbinde nur eine starke Ablehnung der Regierung, aller sozialen Institutionen, der Medien und Forschung, so Buuren, sie hätten aber keinen klaren Forderungskatalog.
Schwerster Gewaltausbruch seit 50 Jahren
Der Chef der Polizeigewerkschaft NPB, Koen Simmers, spricht von den schwersten landesweiten Gewaltausbrüchen seit vier Jahrzehnten. Auch Wissenschaftler wie der Sozialpsychologe Tom Postmes von der Universität Groningen wirken überrascht vom Ausbruch. Er habe das nicht kommen sehen, sagt Postmes der NZZ.
Der Ursprung dieser Unruhen, die die Niederlande gesellschaftlich offensichtlich überrumpelt haben, liegt im Küstenort Urk. Dort entwickelte sich der Protest, entglitt bald zur Wut und sprang über auf urbane Räume wie Amsterdam und Rotterdam.
Dass der anfänglich friedliche bürgerliche Protest derart eskalierte, hat auch mit den politischen Wirren im Land zu. Die Niederlande stecken mitten im Wahlkampf für den Urnengang am 17. März, die Stimmung ist aufgeheizt. Und so riefen die beiden Rechtsaußenparteien „Forum der Demokratie“ und „Partei für Freiheit“ dazu auf, die Sperrstunde nicht hinzunehmen. Vor allem die Partei von Rechtspopulist Geert Wilders sieht in dem aktuellen Machtvakuum eine Chance.
Wut auf Premier Rutte
Denn die Maßnahmen wurden von einer Regierung durchgeboxt, die nur noch geschäftsführend im Amt ist. Der rechtsliberale Ministerpräsident waberte zu oft mit seinem Kurs zwischen Liberalismus und Abgrenzung, trat vor zwei Wochen unter dem Druck einer Politikaffäre und begleitet von schlechten Umfragen mit seiner Regierung zurück, will aber im März erneut als Spitzenkandidat seiner VVD antreten. In den Umfragen liegt Wilders’ PVV dicht hinter der führenden VVD. Die Beschneidung von Freiheiten ist im traditionell liberalen Gesellschaftsklima ein leicht zu bespielendes Thema.
Möglicherweise heizen Bilder in Medien, die Jugendliche mit offenkundigem Migrationshintergrund beim Protest zeigen, die Stimmung zusätzlich auf. In Eindhoven rief ein Anti-Islam-Bündnis zum Protest auf.
International irritieren die Szenen, weil noch immer weithin das Bild von den freiheitsliebenden und weltoffenen Niederländern dominiert. Doch schon 2017 hatte der niederländische Historiker Friso Wielenga festgestellt, dass dieses Bild in Teilen ein Mythos sei. Die Niederländer seien nicht so tolerant, wie sie gesehen werden.
Dennoch, so warnen Buuren und Postmes gleichermaßen in mehreren Interviews, dürfe die Situation nicht dramatisiert werden. Mit der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich sei der Aufstand nicht zu vergleichen.
Ingo Hasewend