Durch massiven Einsatz von Polizei, Nationalgarde und Armee versucht die tunesische Führung derzeit, die überall im Land auflodernden nächtlichen Randalen in den Griff zu bekommen. Seit Tagen ziehen junge Leute trotz Ausgangssperre mit Knüppeln und Molotowcocktails durch die Straßen, zünden Autoreifen und Mülltonnen an, plündern Supermärkte, Banken und Postämter. In mindestens 15 Städten kam es zu Schlachten mit den Ordnungskräften, unter anderem in Armenvierteln von Tunis sowie in den Küstenstädten Sousse, Monastir und Sfax, wo eilig gebildete Bürgerwehren versuchten, ihr Eigentum zu schützen.
Die politische Führung bemüht sich, die aufgeheizte Lage zu beruhigen. Präsident Kais Saied traf sich nahe seiner früheren Privatwohnung mit jungen Leuten und äußerte Verständnis für deren Ärger, warnte aber vor Chaos. Regierungschef Hichem Mechichi erklärte in einer Fernsehansprache, die Krise sei real, die Wut legitim. „Gewalt dagegen ist nicht akzeptabel, und wir werden dagegen mit aller Kraft des Gesetzes vorgehen.“ Parlamentspräsident Rached Ghannouchi von der islamisch-konservativen Ennahda erklärte, Vandalismus schaffe keine Arbeitsplätze.
Nach Angaben des Innenministeriums wurden bisher mehr als 600 Randalierer festgenommen, darunter auch Minderjährige. Auf dem Boulevard Habib Bourguiba im Zentrum von Tunis, vor zehn Jahren der zentrale Schauplatz des Arabischen Frühlings, forderten Demonstranten die Freilassung der Verhafteten und skandierten: „Das Volk fordert den Sturz des Systems.“ Die Frustration der Bevölkerung über die desolate Lage ist enorm, zusätzlich verschärft durch die Corona-Krise. Armut und Arbeitslosigkeit grassieren, über 35 Prozent aller jungen Leute unter 24 Jahren haben nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) keinen Job.
Finanzhilfen aus Europa
Ohne die generösen europäische Finanzhilfen wäre die nordafrikanische Mittelmeernation längst bankrott. Gleichzeitig trug der unkritische wie unkoordinierte Geldsegen aus Frankreich, Deutschland und Italien dazu bei, dass die politische Klasse Tunesiens kaum Motivation verspürt, dringend nötige Reformen anzupacken. Neun Regierungschefs gaben sich seit dem Sturz des Diktators Zine El Abidine Ben Ali die Klinke in die Hand. Langfristiges, strategisches Regierungshandeln existiert nicht. „Unser Land hat es nicht geschafft, sich auf eine Marschroute zu einigen, die uns aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten seit 2011 herausführt”, erklärte der gegenwärtige Premier Mechichi in einer Grundsatzrede kurz nach seinem Amtsantritt. Dies habe in der Bevölkerung die Zukunftshoffnung schwinden lassen. Die politischen Parteien sind tief zerstritten, der Parlamentsbetrieb durch Machtkämpfe gelähmt. Erst vergangenen Samstag wechselte Mechichi in seinem erst vier Monate alten Kabinett zwölf Minister aus. Seit Beginn der Covid-19-Krise im Februar 2020 hat Tunesien bereits den vierten Gesundheitsminister.
Durch die Pandemie schrumpfte die Wirtschaft 2020 um acht Prozent, der größte Rückschlag seit der Unabhängigkeit 1956. Der Tourismussektor, der im Jahr vor Corona sein bis dahin bestes Ergebnis erzielte, ist stark dezimiert. Er galt stets als Eckpfeiler der tunesischen Wirtschaft, die ansonsten wenig zu bieten hat an Innovationskraft, Wertschöpfung und Effizienz. Umso stärker dominiert der aufgeblähte öffentliche Dienst, dessen Mentalität das gesamte tunesische Wirtschaftsleben in negativer Weise prägt. Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) leistet sich Tunesien – bezogen auf Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung – einen der größten und teuersten Beamtenapparate der Welt, der drei Viertel des jährlichen Steueraufkommens verschlingt.