Einen Tag nach den Massenprotesten von Anhängern des Kremlkritikers Alexej Nawalny in ganz Russland hat der Kreml von wenigen Menschen auf den Straßen gesprochen. "Jetzt werden viele sagen, dass viele Menschen zu den nicht genehmigten Aktionen gegangen sind", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. "Nein, es sind wenige Menschen hingegangen. Viele Menschen stimmen für Putin", sagte er in der Sendung "Moskau.Kreml.Putin", die am Sonntagabend im Staats-TV ausgestrahlt werden sollte. Immerhin reichten diese "wenigen Menschen" für Nervenflattern im Kreml.
Denn letztlich waren die Proteste vom Samstag die größten, die es in Russland in den vergangenen Jahren gegeben hatte.
Jemand hielt am Samstagnachmittag in der Menge ein Plakat hoch: „Gegen Putin und für diesen Burschen“, darunter war ein Foto Alexei Nawalnys aufgedruckt. Über dem Gedränge auf dem Moskauer Puschkin-Platz dröhnten „Freiheit, Freiheit“-Sprechchöre gegen die Polizeilautsprecher an: „Diese Veranstaltung ist ungesetzlich. Verlassen Sie sie unverzüglich.“
Auf der Kreuzung zur Twerskaja Straße warfen Demonstranten Absperrungen der Polizei um, ein permanent hupender Jeep-Cherokee rollte über das Eisengitter. Dann stürmten schwarz behelmte Einheitspolizisten heran.
Am Samstag demonstrierten Menschen in ganz Russland für die Freilassung des verhafteten Oppositionellen Nawalny und gegen Wladimir Putins Herrschaft. Am Moskauer Puschkin-Platz versammelten sich rund 20.000 Menschen. Die Polizei gab allerdings nur eine Teilnehmerzahl von 4000 Menschen an.
In Wladiwostok gingen laut Nachrichtenportal „Meduza“ mehr als 3000 Menschen protestierend auf die Straße, ebenso viele in Irkutsk und Nowosibirsk. In Tomsk waren es mehr als 700, in Kemerewo 500. Nach Angaben des Bürgerrechtsportals OWD gab es in Russland bis zum Abend 3400 Festnahmen, davon Hunderte allein in Moskau. Auch Nawalnys Frau Julia wurde abtransportiert. Laut Medienberichten wurde sie am Abend allerdings wieder freigelassen.
20.000 Demonstranten stellen in der 15-Millionen-Stadt Moskau zwar nur einen Bruchteil der Bevölkerung dar. Zum Vergleich: Im weißrussischen Minsk gingen von zwei Millionen Einwohnern im vergangenen halben Jahr wiederholt mehr als 100.000 Menschen gegen Staatschef Alexander Lukaschenko auf die Straße.
Trotzdem bezeichnete die linke Schriftstellerin Lisa Alexandrowa-Sorina den Samstag in Moskau als Sieg: „Die Stimmung war diesmal anders, entschlossener. Trotz der staatlichen Drohpropaganda hat sich das Volk zum ersten Mal mit der Polizei geprügelt.“ Nun komme es aber darauf an, ob die Menschen in den nächsten Wochen erneut auf die Straße gehen.
Nach etwa einer Stunde begannen die Sicherheitskräfte auf dem Puschkinplatz, die Menge abzudrängen, die Schneebälle und Plastikbecher warfen, die Polizisten ließen die Gummiknüppel sprechen, trotzdem wurde eine Einheit von etwa 20 Mann zwischendurch sogar eingekreist.
Offenbar hatten die Moskauer Sicherheitsorgane die Demonstranten dieses Mal unterschätzt. Auch in den Städten Wladiwostok und Irkutsk versammelten sich trotz eisiger Temperaturen Hunderte Demonstranten. Sie skandierten „Wir sind die Macht“, „Weg mit Putin!“ und „Putin ist ein Lügner“. In Chabarowsk richtet sich die Unzufriedenheit der Menschen auch gegen die Inhaftierung eines beliebten Ex-Gouverneurs im Sommer.
In den Tagen zuvor hatte die Staatsmacht alles getan, um die Proteste mit vorbeugenden Repressalien möglichst klein zu halten. Zahlreiche führende Unterstützer Nawalnys wurden festgenommen, seine Pressesprecherin Kira Jarmusch war am Freitag in Moskau für neun Tage in Arrest gesperrt worden, acht andere Aktivisten landeten ebenfalls in Ordnungshaft.
"Ein Palast für Putin"
Der festgenommene Alexei Nawalny hatte noch am Montag selbst per Video zu den Samstag-Protesten aufgerufen. Er und sein Team hatten Anfang der Woche unter dem Titel „Ein Palast für Putin“ ein Enthüllungsvideo veröffentlicht, das beweisen soll, dass sich der Langzeit-Präsident aus Schwarzgeld ein Anwesen am Schwarzen Meer bauen ließ. Der fast zweistündige Film hatte mehr als 65 Millionen Aufrufe auf YouTube. Der Kreml bezeichnet die Vorwürfe als „Unsinn“ und „Lüge“.
Auf dem vor allem bei Jugendlichen populären Portal TikTok erschienen Videos, in denen Schüler das Foto ihres Präsidenten Putin entfernten und durch Nawalny-Porträts ersetzten. Im Gegenzug wurde das Internet am Samstag auf Forderung der Staatsanwaltschaft stundenlang blockiert.
Außerdem eröffnete das russische Ermittlungskomitee ein Strafverfahren gegen Menschen, die zum Protest aufriefen. Dementsprechend groß war auch die Verunsicherung bei den Demonstranten am Samstag. Die Menschen hatten auch Angst, mit Journalisten zu reden. Wie der Moskauer Lehrer Sergei: „Natürlich haben wir alle Angst“, erklärte er, „nur Alexei Nawalny besitzt offenbar eine besondere Psyche und fürchtet sich vor nichts.“