Wie erleben Sie den Machtwechsel in Washington?

VALENTIN INZKO: Als Europäer und Österreicher bin ich hoch erfreut, aber auch als Katholik. Joseph Biden ist nach J. F. Kennedy in mehr als 200 Jahren erst der zweite katholische Präsident der Vereinigten Staaten. Unabhängig davon teilt er unsere Werte, seine Weltanschauung ist unserer sehr ähnlich. Seine Wahl bringt einen Paradigmenwechsel. Vieles wird sich im befreundeten Amerika ändern. Seine größte Herausforderung wird es jedoch sein, die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft zu überwinden und einen Heilungsprozess unter den Amerikanern einzuleiten. Was Bosnien betrifft, kommt es nun zu einer Traumkonstellation zwischen Biden, Brüssel und Berlin.

Sie kennen Biden. Wie das?

Joseph Biden kam am 30. Juli 1999 als Senator und Mitglied der Delegation von Präsident Bill Clinton nach Sarajevo, als der Stabilitätspakt für Südosteuropa gegründet wurde. Aber da habe ich Biden nicht wirklich kennengelernt. Ich hatte nur ein kurzes Gespräch mit Clinton. Wirklich kennengelernt habe ich ihn zehn Jahre später am 19. Mai 2009, als wir ein halbstündiges Gespräch hatten. Damals dankte ich ihm auch für seine Unterstützung meiner Kandidatur zum Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina. Der Kardinal von Washington hatte ein Empfehlungsschreiben an den Vizepräsidenten und Katholiken Biden geschickt. Daran habe ich ihn erinnert. Er scherzte: „Ich musste brav sein, denn er (der Kardinal) ist ja mein Boss!“ Jedenfalls habe ich ihn als großen Kenner des Balkans kennengelernt, der Tito getroffen und im Senat eine flammende Rede gegen die Entwaffnung der bosnischen Armee und für eine Nato-Intervention gehalten hatte.

Wie haben Sie ihn damals und später wahrgenommen?

Als warmherzigen, väterlichen Menschen, der sich Sorgen machte über die Entwicklung in Bosnien und am Balkan. Und als jemanden, der sich in Europa wirklich gut auskennt.

Heißt das, er interessiert sich für den Balkan und kennt sich mit der politischen Lage dort aus?

Absolut, auch in Details war er immer erstaunlich bewandert. So kam er sogar zur Bestattung des slowenischen Politikers Edvard Kardelj im Februar 1979 nach Ljubljana/Laibach.

Wird der Machtwechsel in Washington die Karten am Balkan und in Bosnien neu mischen?

Auf jeden Fall. Man sieht das bereits bei seinen ersten Nominierungen. So hat er Bill Burns, den ehemaligen Stellvertreter von Außenministerin Hillary Clinton, als CIA-Direktor vorgeschlagen. Das freut mich sehr. Das ist einer der besten Diplomaten, die ich in meinem Leben getroffen habe. Neben Französisch spricht Burns Russisch und Arabisch. Und er ist selbstverständlich ein exzellenter Kenner des Balkans. Eine weitere Nominierung betrifft Samantha Power, die zwar die Entwicklungshilfe Amerikas koordinieren soll, aber auch im nationalen Sicherheitsrat sitzen wird, wo ich sie einmal getroffen habe. Power hat ein 1000 Seiten umfassendes Buch über den Genozid geschrieben, in dem auch Bosnien zur Sprache kommt. Und das ist erst der Anfang. Aber man sieht bereits deutlich die Konturen der neuen Balkanpolitik der neuen US-Administration. Realistischerweise muss man dazusagen, dass Bosnien-Herzegowina nicht das erste Problem der Biden-Administration sein wird. Wirklich nicht. Aber die Leute um den neuen Präsidenten wissen, dass es in Bosnien einen unvollendeten Frieden, einen gelähmten Frieden gibt, und sie wollen das in Dayton begonnene Werk vollenden.

Was bedeutet Joe Biden für Europa insgesamt?

Eine Erleichterung. Europa muss jedenfalls eine eigene Linie haben. Es ist ein fantastischer Kontinent. Aber nur gemeinsam, aufgrund gemeinsamer Werte, werden Europa und die USA leichter globale Probleme in Angriff nehmen können.