Am Sonntagabend wurde in Moskau nicht nur Alexej Nawalny festgenommen. Laut dem Portal OWD-Info führte die Polizei 62 seiner Anhänger am Flughafen Wnukowo ab, wo sich über tausend Menschen versammelt hatten, um den in Russland vergifteten und in Deutschland kurierten Oppositionellen bei seiner Heimkehr zu begrüßen. Vergeblich. Zwar ließ die Staatsmacht in Wnukowo martialische Hundertschaften von Nationalgardisten in Straßenkampfanzügen aufmarschieren, leitete aber Nawalnys Maschine aus Berlin auf den Flughafen Scheremetjewo um. Dort führte man ihn bei der Passkontrolle ab.



Regimekritiker bezeichneten das Vorgehen als absurd und panisch, so wie die Tatsache, dass Nawalny in keinem Gericht, sondern auf einer Polizeiwache in der Vorstadt Chimki dem Haftrichter vorgeführt wurde. Der folgte dem Antrag der Anklage und schickte Nawalny für – vorerst – 30 Tage in U-Haft.

„Da hat jemand im Bunker so viel Angst, dass sie das Prozessrecht zerrissen und in den Müll geworfen haben“, sagte der wütende Nawalny auf Video. Er ist der Held des Tages, zumindest für die demokratische Minderheit Russlands. „Alexejs Tapferkeit ist offensichtlich“, sagt der Menschenrechtler Sergei Dawidis. „Mit seiner Rückkehr hat er der Staatsmacht erneut seine Tagesordnung aufgedrückt, sie genötigt, die schwachsinnigsten und rechtswidrigsten Entscheidungen zu fällen.“



Schon feiern liberale Kommentatoren Nawalnys Rückkehr als historisches Ereignis, reden von ihm als künftigem Präsidenten. „Die Geschichte nimmt zunehmend romantische Züge an“, schreibt der Politologe Sergei Trawin auf Facebook. „Und wenn das Volk einmal von dieser Romantik durchdrungen ist, kann es seinen Helden bis in den Himmel heben.“
Am Abend rief der 44-Jährige seine Anhänger zu Straßenprotesten auf.

Aber noch ist Nawalny trotz seiner heldenhaften Rückkehr und der Streiche, die er dem gefürchteten Sicherheitsdienst FSB mit den Enthüllungen über dessen Täterschaft bei seiner Vergiftung spielte, kein Volksheld. Nawalny habe das Zeug zum Spitzenpolitiker, auch wegen seines Populismus, sagt der Soziologe Lew Gudkow. „Aber noch fehlt ihm die machtvolle Unterstützung aus der Bevölkerung.“ Selbst junge Leute, die mit Nawalny und einer Demokratie westlicher Art sympathisierten, konsumierten seine Auftritte im Internet wie Fernsehzuschauer Fußballspiele, mieden aber jede aktive Teilnahme am politischen Prozess.



Laut einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums vom September ist Nawalny 31 Prozent der Russen gleichgültig, 32 Prozent missfällt oder nervt er, 18 Prozent hegen Achtung oder Mitgefühl für ihn. Menschenrechtler Dawidis verweist darauf, dass die Zahlen im Fluss sind, langfristig arbeite der Trend für Nawalny und gegen Putin: „Die Erklärungen des Staatsfernsehens stellen immer weniger Menschen zufrieden.“

Nach einer amtlichen Umfrage geben 64 Prozent der jungen Familien ihr Geld für Essen und Kleidung aus. Aber trotz der chronischen Wirtschaftskrise gibt es keine Massenproteste. Gestern versammelten sich vor der Polizeiwache, wo Nawalny vor Gericht stand, 200 Menschen. „Wir sind gekommen, um Nawalny, aber auch der Staatsmacht zu zeigen, dass wir hinter ihm stehen“, sagte die Managerin Irina. Zahlenmäßig kühlen solche Demonstrationen die Panik im Kreml wohl eher ab.