Auch Nawalnys Anhänger waren gemischter Gefühle. „Vor dem Flughafen sind starke Sicherheitskräfte zusammengezogen worden“, erklärte Nikita Iljin, Aktivist des Nawalny-Stabs im sibirischen Kurgan. „Es ist sehr gut möglich, dass sie Alexei sofort festnehmen werden. Aber alles ist möglich. Russlands Staatsmacht ist unberechenbar.“
Diese Worte bestätigten sich wenige Stunden später. Die Passagiermaschine, in der Alexei Nawalny nach fast fünf Monaten Behandlungs- und Erholungsaufenthalt in Deutschland nach Russland zurückkehrte, landete nicht wie geplant auf dem Flughafen Wnukowo westlich von Moskau, sondern in Scheremetjewo im Norden der Hauptstadt.
Dort stieg der Oppositionelle, der trotz 18 Grad Minus nur eine leichte Jacke über einer Daunenweste und einem Kapuzenpulli trug, mit anderen Passagieren in den Autobus zum Flughafengebäude. An der Passkontrolle erwarteten ihn schwarz uniformierte Beamte, sie forderten ihn auf, ihnen zu folgen. Es handelte sich um Beamte der Fahndungsabteilung der russischen Strafvollzugsbehörde FSIN. Nawalny verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange von seiner Frau Julia, dann verschwand er mit den Ordnungshütern. Das war kurz nach 19 Uhr MEZ.
„Mich verhaften? Das ist unmöglich“, hatte Nawalny noch in Berlin den zahlreichen Journalisten unter den Passagieren vor dem Abflug zugerufen. „Alles wird wunderbar sein.“ Danach nahm er neben seiner Frau Julia in der Reihe 13 Platz.
Keine Gnade für Putins Kritiker
Wenige Minuten nach der Festnahme sagte Nawalnys Vertrauter LeonidWolkow TV Doschd, er hoffe, dass Nawalny nicht länger als 48 Stunden in Arrest bleibe. Dann aber meldete die staatliche Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die FSIN habe Nawalny festgenommen, ihn erwarte ein Termin beim Haftrichter. Er war schon Ende Dezember zur Fahndung ausgeschrieben worden, nach Ansicht der FSIN hat er „systematisch“ gegen Bewährungsauflagen in einem anderen Verfahren verstoßen. Gestern abend war unklar, ob Nawalny bis zur Entscheidung des Haftrichters in Gewahrsam bleibt. Iljin äußerte die Hoffnung, Nawalny komme noch in der Nacht frei.
In Wnukowo hatten sich schon Stunden vorher hunderte Anhänger, Gegner, Polizisten und Journalisten versammelt. Gegen 17 Uhr befanden sich etwa 300 Menschen im Wartesaal des Internationalen Terminals, ungefähr Tausend harrten trotz der bitteren Kälte auf der Straße und in den Eingängen zur S-Bahn-Station des Flughafens aus. Das Terminal sperrten schwer bewaffnete Sonderpolizisten ab- Immer wieder wurden Nawalny-Anhänger von Polizisten abgeführt oder gewaltsam weggeschleppt. Nach Angaben der Zeitung Kommersant sperrten die Sicherheitskräfte die Straßen zum Flughafen Scheremetjewo zeitweise.
Hype um Nawalnys Heimkehr
Damit reagierten die Behörden offenbar auf den Nawalny-Hype, der in Moskaus Oppositionskreisen in den Tagen vor seiner Rückkehr geherrscht hatte. „Zu uns fliegt der Präsident“, bloggte der liberale Politiker Leonid Gosman. „Die ganze Welt hat ihn schon als einzige Alternative zu Putin anerkannt, so wie seinerseits Mandela die Alternative zu de Clerk und Apartheid wurde.“ Auf der Facebookseite „Wir empfangen Nawalny“ sagten fast 2500 Menschen ihre Teilnahme zu, darunter allerdings auch zahlreiche Journalisten.
Die liberale Hauptstadtpresse diskutierte eifrig die möglichen Szenarien der Heimkehr: Nawalny wird schon auf dem Rollfeld oder bei Passkontrolle im Flughafen-Gebäude festgenommen oder in aller Öffentlichkeit beim Verlassen des Flughafens. Oder die Staatsmacht gewährt ihm freies Geleit, obwohl auch noch ein neues Strafverfahren wegen mutmaßlicher Veruntreuung auf ihn wartet. Die Variante, dass Nawalnys Flieger statt in Wnukowo in Scheremetjewo landete, hatten nur wenige auf der Karte. „Diese Festnahme ist völlig ungesetzlich, aber ich habe damit gerechnet“, sagte Nawalny-Aktivist Iljin. „Nur nicht mit der schrankenlosen Willkür, die sie dabei angewendet haben.“
Viele Juristen und Menschenrechtler erwarteten Nawalnys Verhaftung spätestens nach einigen Tagen, Pawel Lobkow vom liberalen TV Doschd aber schob den schwarzen Peter dem Kreml zu: „Wenn sie ihn im Flughafen in Handschellen legen und in einen Gefängnisbus schleppen, ist das für die Behörden eine totale moralische Niederlage. Wenn sie ihn einfach durchlassen, bedeutet dass ihre Kapitulation.“ Die Staatsmacht sei in ein Dilemma geraten, jeder neue Schritt werde ihre Lage nur verschlechtert.
Die meisten Staatsmedien dagegen ignorierten Nawalny, der Nachrichtenkanal Rossija 24 widmete sich gestern dem extremen Frost, russischen Siegen bei der Rallye Dakar sowie dem für heute angekündigten Start der landesweiten Massenimpfung gegen Covid 19.
unserem Korrespondenten Stefan Scholl aus Moskau