Dass historische Momente große Worte brauchen, weiß sie. Und in jenem denkwürdigen Moment, der ihr bisher größter war, richtete sie ihre zuallererst an die Kinder: „Täumt mit Ehrgeiz, führt mit Überzeugung, und seht Euch selbst in einer Weise, wie andere es nicht vermögen, einfach weil sie es noch nie gesehen haben. Aber wisst, dass wir Euch bei jedem Schritt Beifall zollen werden.“

So sprach Kamala Harris am 7. November, als sie, als erste Frau in der Geschichte der USA, als erste Nichtweiße und als erste mit asiatischen Wurzel in weißer Jacke, weißer Bluse und weißer Hose ihre Siegesrede hielt. Nein, das Weiß war keine Frage der Mode. Es war politisches Statement. Weiß ist die Farbe der Suffragetten – jener kämpferischen Damen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht und für Frauenrechte eintraten. Das Wort „Suffrage“ findet sich im Grundgesetz der Vereinigten Staaten. Es bedeutet das Recht, zu wählen.



Schon als kleines Mädchen mit Ehrgeiz geträumt und an sich geglaubt: Das hat Harris, mit Unterstützung ihrer Mutter, offenbar selbst getan. Sie scheint sich irgendwann entschlossen zu haben, Geschichte zu schreiben: Kamala Harris war die erste nichtweiße Bezirksstaatsanwältin in San Francisco; die erste Frau und Nichtweiße, die es an die Spitze des Justizministeriums in Kalifornien schaffte. Am 20. Jänner übernimmt sie nun das Amt der Vizepräsidentin der USA.

Dass andere sie nicht unbedingt als die sehen, die sie wirklich ist, das kennt sie. Als Einwanderer-Kind. Aber auch als Frau. Noch bevor sie überhaupt angelobt ist, gingen schon die Diskussionen darüber los, ob sie auf dem Cover der „Vogue“ im richtigen Outfit zu sehen ist. „Zu leger“, „zu wenig präsidentiell“; ob ihre Hautfarbe aufgehellt wurde und in Wahrheit nicht dunkler sei, wurde da diskutiert. In wenigen Tagen tritt sie, an der Seite des neuen Präsidenten Joe Biden, ihr neues Amt an – es wird auf ihre Taten ankommen, nicht auf die Schuhe. Die Herkulesaufgabe steht an, das tief gespaltene Land zu versöhnen und aus der Krise zu holen. „Sie ist eine furchtlose Kämpferin für die kleinen Leute“ , sagte Biden, als er sie nominierte.

Verteilungsgerechtigkeit

Harris wurde 1964 in Kalifornien als Tochter eines aus Jamaika eingewanderten Wirtschaftsprofessors und einer aus Indien stammenden Krebsforscherin geboren. Sie studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften, wurde Anwältin. Ihren Kampfgeist, sagt Harris, habe sie ihrer Mutter zu verdanken, die als Bürgerrechtlerin aktiv war. Harris will sich für Klimaschutz, Gleichberechtigung und Verteilungsgerechtigkeit einsetzen. Nach vier Jahren Trump, die sich für viele Frauen und People of Color wie ein Rückschritt anfühlten, sind die Erwartungen hoch. Rassismus und Sexismus werden nicht von heute auf morgen verschwinden, doch Harris gilt als Hoffnungsträgerin für einen Bewusstseinswandel.

Die 56-jährige Spitzenjuristin hat sich als willensstarke, messerscharfe Analystin und zugleich empathische, temperamentvolle Politikerin einen Namen gemacht. Viel Respekt erwarb sie sich als Senatorin, als sie etwa im Geheimdienstausschuss durch profunde Sachkenntnis und scharfe Fragen auffiel und nicht wenige Amtsträger mit ihrer forschen Art immer wieder in Verlegenheit brachte.

Kritisch gesehen wird dagegen bei linken US-Demokraten ihre Zeit als Bezirksstaatsanwältin in San Francisco und als Generalstaatsanwältin Kaliforniens. Zu dieser Zeit rühmte sich Kamala Harris mit der Zahl steigender Verurteilungen und Anklagen. Nicht geklappt hat dann ihr Versuch, selbst Präsidentin zu werden: Schon zu Beginn der Vorwahlen bei den Demokraten stieg sie aus dem Rennen aus. Dass sie nun dennoch an der Seite ihres damaligen Konkurrenten Joe Biden regieren wird, war eine Volte des Schicksals, die sie freut.

Momala

Ihr Ehemann, der New Yorker Anwalt Douglas Emhoff (56) wird am 20. Jänner „America's first ever second gentleman“ und mit ihr in den Amtssitz der Vizepräsidentin am Number One Observatory Circle in Washington einziehen: Seit 2014 sind die beiden verheiratet. Emhoff brachte zwei heute erwachsene Kinder mit in die Ehe, Ella und Cole, die Kamala Harris „Momala“ nennen – eine liebevolle Abwandlung und Umschreibung ihrer Stiefmutter-Rolle. „Es ist schön, bald Vize-Präsidentin zu werden“, sagte sie selbst in einem Interview. „Aber mit Abstand am liebsten und wichtigsten ist mir meine Rolle als ,Momala'“.

Kamala, ihr indischer Vorname, bedeutet „Lotus“. Wie der blühende Lotus im Teich, sagen Freunde, stehe Kamala mit beiden Beinen fest auf dem Grund und greife von dort aus strahlend nach den Sternen. „Ich bin die Erste, aber werde nicht die Letzte sein“, sagte Harris bei ihrer Siegesrede nach der Präsidentschaftswahl. Möge sie recht behalten.