Wenn selbst die USA, diese „Ikone der Demokratie“, gerade noch an Putsch und Bürgerkrieg vorbeischlittern, dann sollten sich die vergleichsweise jungen europäischen Demokratien nicht sicher sein, dass nicht auch „schöne Verfassungen“ ins Wanken gebracht werden können. Schließlich gibt es jenen verstandesbefreiten Mob, der die freiheitlichen Spielräume nutzt, um sie zu beseitigen, auch in europäischen Ländern.
Es hilft, wenn wir uns Aristoteles an den Frühstückstisch laden. Für ihn sind Maß, Mäßigung, Mitte Voraussetzung eines glücklichen Lebens, für Montesquieu Voraussetzung einer gelingenden Politik. Wir könnten uns viele weitere Denker und Analytiker einladen. Die Mehrheit muss Mitte sein und Maß halten, dann hält man auch ein paar Verrückte an den Rändern aus. Die neuen, allenthalben wabernden Extremismen sind im konventionellen Links-rechts-Schema schlecht zu erfassen; auch der Begriff „Extremismus der Mitte“ trifft es nicht. Sie sind (paradoxerweise) gleichermaßen totalitär wie anarchistisch. Rasche Erklärungen verweisen auf Einkommensverlust, Ausschließung, Verarmung. Aber man findet sozial gestreute und weltanschaulich konträre Agglomerationen, die sich in der „Logik der Tat“ vereinen. Es läuft anders.
Eine erste These: Es handelt sich um ein ungeordnetes Potenzial von Wut, Aggressivität und Ressentiment, und diese Antriebskräfte können sich an beliebige Themen heften. Da mag es sich um gestohlene Wahlen, nichtexistente Epidemien oder die Erhöhung von U-Bahn-Preisen handeln. Letztlich ist es das rein emotionale Signal einer pauschalen Zustimmungsverweigerung; Pogromstimmung, Freude am Exzess. Macht kaputt, was euch kaputtmacht: Erleben eines kleinen Stücks Selbstwirksamkeit. In Großbritannien dienen als Grundlage Souveränitätsillusionen. In Osteuropa sind es Nationalismen. In den USA ein erfundener Wahlbetrug. In Mitteleuropa wird ein Virus zum Thema. Dem „Ende der Geschichte“ folgt eine Epoche der Extremismen: Bolschewismen und Faschismen im neuen Gewand. Eine zweite These: Um Wut und Ressentiment zu erklären, muss man sich auf eine anthropologische Ebene begeben. Wir haben es mit einer Asymmetrie zwischen der äußeren Komplexität der Spätmoderne und der inneren Ausstattung des Menschen zu tun. Einerseits Komplexität der Welt: Diese ist unverlässlich und undurchschaubar geworden. Man wird getrieben, verliert Selbstbewusstsein, kommt sich selbst im Alltag blöd vor. Alles ist unsicher, beschleunigt, flüssig, schillernd. Man fühlt sich an der Nase herumgeführt. Viele werden mit dieser Welt des „fragilen Pluralismus“ – mit seinen Unfertigkeiten und Halbheiten – nicht fertig. Da klammert man sich eher an Fundamentalismen, Orthodoxie, Romantik, Verschwörungen.
Andererseits Schwund der „Innenausstattung“ der Menschen: Die alten Orientierungen und Haltepunkte sind geschwunden, man lebt im Vakuum. Die Religion stellt keinen schützenden Baldachin mehr dar; stattdessen sind nicht Vernunft und Sittlichkeit (im Sinne der Aufklärungsideologie) im Aufstieg, vielmehr dringen in das Vakuum neue Dämonen vor. In einer Gesellschaft, die jegliche Hemmung als psychisches Problem betrachtet, geht die Vorstellung verloren, dass „Zivilisierung“ immer Beschränkung, Domestizierung, Höflichkeit, Selbstdisziplinierung bedeutet hat – und eben nicht radikale Expressivität und Spontaneität. Auch Politik funktioniert nur, wenn man ebenso oft kollidiert wie kooperiert, zur Inszenierung ebenso viel Ernsthaftigkeit walten lässt. Lebenswirklichkeit läuft meistens auf den Kompromiss, auf Maß und Mitte, hinaus, wenn es nicht krachen soll. Die beiden Thesen erklären die Attacken auf die Wirklichkeit.
Die dritte These besagt: Wenn man sich eine „andere Wirklichkeit“ imaginiert, muss man die professionellen Verteidiger der „wirklichen Wirklichkeit“ bekämpfen: gegen Experten und gegen Wissenschaftler, gegen Politiker und Bürokraten, gegen die Medien mit ihren Fake News, gegen „irgendwas“ oder „alles“ – und tatsächlich taucht ja das alte Vokabular wieder auf: gegen das „System“. In den denkverwahrlosten Befindlichkeitsblasen, in denen das „Recht auf meine Gefühle“ zum Argument erhoben wird, entstehen Resonanzmöglichkeiten, die nicht sonderlich intelligente, aber skrupellose Manipulateure wie der scheidende US-Präsident und seine Imitate nutzen. Die affektbefeuernden, holzschnittartigen Neo-Wirklichkeiten können aber nur Himmel oder Hölle sein. Maß und Mitte scheinen langweilig.
Vierte These: Wut und Ressentiment sind die Triebkräfte, aber sie brauchen adäquate Bedingungen für Artikulation, Organisation und Eskalation. Wahnsinniges Räsonieren hat traditionell die Reichweite des Stammtisches nicht überschritten, doch die elektronischen Netze sind Plattformen, Lautsprecher, wirksame Aufheizungs- und Zusammenrottungsinstrumente, Extremismuspropagandisten, Eskalateure, Emotionsfabriken. Möglicherweise kann die Demokratie das Internet nicht überleben, weil sie damit (entgegen den anfänglichen Erwartungen) einen selbstzerstörerischen Apparat geschaffen hat.
Fünfte These: Ein extremes Selbstverständnis von Individualismus drängt zum anarchistischen Modell. Nach dem Verlust der Lebensbedeutsamkeit des Glaubens haben sich die Individuen selbst geheiligt, ihre individuelle Freiheit wird zuweilen als oberstes Ziel in der dümmsten Variante artikuliert: Ich darf tun, was ich will. Eine totalitäre Heilsverkündigung.
Die sechste These betrifft die Handlungsschwäche westlicher Politik. Das alte demokratische Dilemma der „Wehrhaftigkeit“: Wie umgehen mit Kräften, welche die Verbürgungen eines rechtsstaatlich-liberalen Systems benutzen, um es zu beseitigen? Es ist (a) ein funktionaler Aspekt: Wie weit nimmt man (etwa in einer Epidemie) asozialen Protest in Kauf, der andere schädigt, und lässt asoziales Verhalten zu, weil man kein „Spielverderber“ sein will? Doch dabei entsteht (b) ein neues Systembild: Sanftheit des Staates wird als Ermunterung angesehen, einen Schritt weiter zu gehen. Wenn geltenden Regeln nicht Geltung verschafft wird, diskreditiert sich das System als eines der Schwäche und Dekadenz, das nicht einmal seine höchsten Organe schützen kann und von Rechtsstaatlichkeit nur schwätzt – eine Feststellung, in der sich völkische Verteidiger, südöstliche Islamisten und asiatische Diktatoren finden.
Der paralysierte Staat traut sich nicht mehr: kein wirklicher Lockdown, keine wirklichen Verbote, keine Strafen. Auch Verfassungsrichter könnten ihre Simpel-Hermeneutik nachschärfen. Denn die Hilflosigkeit amüsiert die Totalitären. Siebente These: Eine demokratische Gesellschaft braucht Maß und Mitte. Eine Geisteswelt von Menschenverstand, Abwägung und Urteilskraft, Pragmatismus und Nuanciertheit, Differenzierungsfähigkeit, Sensibilität und Kompromissfähigkeit. Die USA haben vorgeführt, was politischer Anstandsverlust und demokratische Würdelosigkeit bedeuten. Aber jede Demokratie wird funktionsunfähig, wenn sie von ihren weltanschaulichen Rändern her zerstückelt wird.
Manfred Prisching