Professor Fukuyama, erinnern Sie sich an ein vergleichbares Ereignis in der US-Geschichte: Das Kapitol brennt und der Präsident schaut zu?

FRANCIS FUKUYAMA: Nein, gewiss nicht. Allerdings gab es einige Vorläufer für dieses Ereignis. Militante Pro-Trump-Gruppierungen hatten ja bereits in einigen Städten wie Michigan die Kapitole gestürmt. Aber natürlich hatte bis dahin niemand einen Angriff auf den Kongress organisiert. Wirklich schlimm ist, dass diese Aktionen durch den Präsidenten selbst organisiert worden sind.

Ist das der finale Auftakt oder das Ende des Kampfes zwischen Demokraten und Populisten?

FUKUYAMA: Das ist ungewiss. Trump hat dermaßen überzogen, dass endlich einige republikanische Politiker mit ihm gebrochen haben. Mitch McConnell und Lindsey Graham, die Trump all die Jahre treu dienten, haben nach den Krawallen wirklich gute Reden gehalten. Sie haben sich von Trumps Behauptung, die Wahlen seien gestohlen, distanziert. Sie haben die richtigen Worte für die Gewalt gefunden, die es an dem Tag gegeben hat. Eine überwältigende Mehrheit im Senat hat im Sinne des Wahlresultats abgestimmt. Das ist ermutigend. Es ist ein finaler Bruch in der republikanischen Führerschaft, da sie ihn nun offen kritisieren. Die Frage ist, wie der Rest des Landes die Geschehnisse interpretieren wird.

Was glauben Sie?

FUKUYAMA: Das Hauptproblem ist doch, dass viele Unterstützer in ihrem eigenen Universum leben. Sie informieren sich absolut einseitig. Viele von ihnen sind davon überzeugt, dass Trump die Wahlen gewonnen hat und die Demokraten sie gestohlen haben. Wenn man so etwas wirklich glaubt, hat man natürlich Wut. Das erklärt, was diese Menschen angetrieben hat.

Haben diese Menschen den Wirklichkeitsbezug verloren?

FUKUYAMA: Sie leben in einer alternativen Realität, die durch die einseitige Nutzung des Internets und der sozialen Medien geschaffen wird. Befeuert wird das durch die Tatsache, dass der Präsident der USA diese Vorstellungen immer weiter bedient. Wenn das aufhören würde, könnte sich die Lage wieder normalisieren. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, was in dieser Richtung noch alles passieren wird.

Twitter und Facebook haben umgehend reagiert – endlich, sagen viele. Wie sollte man mit den sozialen Medien nun verfahren?

FUKUYAMA: Meiner Meinung nach sollten sich Twitter und Facebook nicht als Wächter der Demokratie aufspielen, denn sie sind nur private Unternehmen. Sie besitzen nicht die Legitimität, um solche Entscheidungen zu treffen. Wenn Twitter Trumps Account sperrt, kann man natürlich sagen, dass man das schon hätte deutlich früher tun sollen. Aber die Frage ist doch, ob man solche elementaren Entscheidungen einem Privatunternehmen überlassen sollte. Ich bin dagegen, es in die Hände der drei Unternehmen Google, Facebook und Twitter zu legen, was eine politisch opportune Meinung ist und welche nicht. Auch wenn es kurzfristig richtig erscheinen mag, ist das langfristig gesehen nicht ihre Aufgabe. Es könnte dazu führen, dass sie besonders die Leute sperren, die sie politisch nicht besonders mögen.

Viele glauben in den Reaktionen einen Sieg der demokratischen Strukturen zu erkennen. Aber ist es nicht zugleich ein starkes Signal für ähnliche populistische Strömungen, auch in anderen Teilen der Welt, was man am Mittwoch sehen konnte?

FUKUYAMA: Es ist auf keinen Fall ein guter Präzedenzfall, dass dies ausgerechnet in einer alten Demokratie passiert ist. Die USA haben durchgehend politische Führer in allen Teilen der Welt kritisiert, wenn sie Wahlergebnisse gefälscht haben oder ohne demokratische Legitimation an der Macht verblieben. Und dann haben wir so einen politischen Führer in den USA, der vielleicht nicht exakt so wie diese Diktatoren ist, aber doch ein autoritärer Politiker. Das ist eine schlechte Botschaft an den Rest der Welt, die von Washington ausgeht: Man akzeptiert auch hier die Ergebnisse nicht, sondern bedient sich der Gewalt, um seinen Willen zu bekommen. So etwas passiert für gewöhnlich in kleinen schwachen Demokratien, aber so etwas darf nicht in den Vereinigten Staaten passieren!

Trump stand ja nicht alleine, er erhielt eine umfassende Unterstützung durch die Mitglieder der Republikanischen Partei.

FUKUYAMA: Ja, das ist richtig. Viele standen antidemokratischen Prinzipien nahe. Dennoch befinden wir uns an einem Wendepunkt. 93 Senatoren haben das Wahlergebnis akzeptiert, wer die Reden von den Republikanern liest, die sie nach den Vorfällen im Kapitol gehalten haben, kann in eindrucksvoller Weise erkennen, dass sie grundsätzlich mit Trump gebrochen haben. Sie sagen eindeutig, dass diese Ereignisse inakzeptabel sind. Sie haben feststellen müssen, dass dieser Präsident Kräfte entfesselt hat, die sie selbst physisch bedroht haben.

Ein Wendepunkt? Immerhin haben 74 Millionen Amerikaner für Trump gestimmt. Was wird man in der Zukunft erwarten müssen?

FUKUYAMA: Das ist richtig. Ich bin wirklich enttäuscht, dass so viele Amerikaner für diesen Idioten gestimmt haben. Schon bevor er 2016 gewählt wurde, war er in meinen Augen ein absolut unterqualifizierter Bewerber um dieses hohe Amt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so ein Lügner jemals Präsident hätte werden können. Die Tatsache, dass er gewählt wurde und eine breite Unterstützung genossen hat, die zum Teil fanatische Züge trägt, ist für mich immer noch erstaunlich und zutiefst enttäuschend. Eines der erstaunlichen Ergebnisse der Wahl war jedoch, dass die Republikaner auf Landesebene besser abgeschnitten haben als Trump selbst.

Wie erklären Sie sich das?

FUKUYAMA: Das Wahlergebnis wurde durch Angst und Missbilligung dessen beflügelt, was die Demokraten politisch verkörpern. Die Demokraten sollten das verstehen, viele wählen die Republikaner, weil sie das Programm der Demokraten nicht teilen. Das hat wenig mit Trump zu tun.

Welche Politik braucht es, um die Menschen in den USA wieder stärker zusammenzubringen?

FUKUYAMA: Es ist auf jeden Fall wichtig, die Koalition zu spalten zwischen denen, die Trump unterstützen, und jenen, die als Nicht-Trump-Unterstützer für die Republikaner votieren. Das hat Biden zum Teil schon hinbekommen, indem er Wähler der Mittelklasse aus den Vorstädten Trump abspenstig machen konnte. Das grundlegende Mittel, den Trumpismus zu besiegen, ist, die Wahlen zu gewinnen.

Inwiefern?

FUKUYAMA: Denken Sie nur vier Jahre zurück, da kontrollierten die Republikaner das Repräsentantenhaus, den Senat und stellten den Präsidenten. Nun kontrollieren sie nichts mehr davon. Menschen lieben nun einmal Gewinner. Wer nicht erfolgreich ist, verliert auf Dauer die Unterstützung. An diesem Punkt werden die Wähler auch den Republikanern abtrünnig.
Wird sich die Aufregung schnell legen, sobald Biden im Amt ist?
Ich denke nicht. Wenn man sich in das Denken der Trump-Anhänger hineinversetzt, ist ja klar, dass es eine nicht legitimierte Präsidentschaft ist. Der Übergang wird nicht einfach. Ich erwarte weitere Gewaltausbrüche. Auch die Proteste werden nicht verschwinden. Für Biden wird die Tatsache, dass die Demokraten im Senat durch die Stimme der künftigen Vizepräsidentin Kamala Harris die Mehrheit haben, vieles einfacher machen. Die Republikaner hätten im anderen Fall jede einzelne seiner politischen Entscheidungen blockiert.

Welche Bedeutung hat das Ereignis für die Welt in Bezug auf populistische Strömungen?

FUKUYAMA: Wenn man sich die europäischen populistischen Strömungen ansieht, weiß man, dass sie die Entwicklungen in den USA als eine Art Vorbild ansehen. Möglicherweise könnten sie nun sagen, dass der nächste Schritt in Aktionen besteht, die auf physischer Gewalt beruhen. Andererseits hat das amerikanische politische System die Republikaner durch die Wahlen in Georgia abgestraft. Das zeigt doch, dass demokratische Prozesse in den USA immer noch funktionieren und dass Fehler durch die Wähler korrigiert werden können. Die Menschen sollten sich überall bewusst machen, dass Demokratie für eine friedliche Auflösung von Konflikten steht. Und die Institutionen, die dafür stehen, können funktionieren. Auch in den USA haben sie am Ende funktioniert, trotz der zahlreichen Bedrohungen, denen sie sich ausgesetzt sahen. Das liefert doch einige Gründe für die Annahme, dass wir durch all das irgendwie hindurchkommen werden.