Das mit der Hoffnung ist so eine Sache. Man muss daran glauben, dass Besserung in Sicht ist. Im Flüchtlingslager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos können die Menschen auf die Großmut einiger Großherziger setzen, die in Privatinitiativen anreisen, um zu helfen. Eine von ihnen ist die Steirerin Doro Blancke, die den Großteil der letzten drei Monate als Helferin vor Ort war. Sie verteilt gemeinsam mit einer NGO und geflüchteten Freiwilligen aus dem Camp täglich 400 Essen an Diabetiker.
Die Realität des Alltags ist grauenhaft. Im Gespräch mit uns fällt es Blancke immer wieder schwer, die richtigen Worte für das Elend zu finden, das sie tagtäglich mit ansieht. Das Camp, das nach dem Brand im Lager Moria nun auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz direkt am Meer im Schnellverfahren errichtet wurde, stand diese Woche unter Wasser, nachdem es mehrere Tage heftig regnete. Während die Winterwinde vom Meer ungehindert aufs Lager treffen, leben tausende Menschen in dünnen Zelten, ohne Heizung, ohne warme Mahlzeiten, vielfach ohne Strom. Rund ein Drittel der Insassen sind nach Angaben von Hilfsorganisationen Kinder. „Die Kinder sind eigentlich ständig verschnupft“, erklärt die Aktivistin. "Was mir auffällt ist, dass die Leute ständig frieren. Sie fragen uns andauernd nach warmem Gewand und warmen Schuhen."
Überschwemmungen suchen das Camp heim
Auf die Frage, ob die Geflüchteten es schaffen, ihre Zelte erfolgreich gegen eindringendes Wasser zu schützen, schüttelt Blancke den Kopf. „Die Kreativität der Geflüchteten kennt keine Grenzen. Ein junger Mann hat einen Graben um sein Zelt geschaufelt und pflanzt Lauch und Zwiebeln in die Erde rundherum. Alle hier kennen seinen ‚Garten‘. Die Menschen schlafen auf dünnen Decken auf dem Zeltboden. Für die Neugeborenen habe ich kleine Babybadewannen gekauft, dort können wir Decken hineinlegen, dann sind zumindest sie vor der Feuchtigkeit geschützt.
Mehr zur Lage auf Lesbos
Dreijähriges Mädchen wurde blutüberströmt und vermutlich vergewaltigt aufgefunden
Die Schreckensmeldungen reißen dennoch nicht ab. Zuletzt wurde der Fall eines dreijährigen Mädchens bekannt, das blutüberströmt und offenbar vergewaltigt in dem Lager aufgefunden wurde. Doro Blancke organisierte kurzerhand eine Wohnung außerhalb des Camps, wo sich die Familie mit psychologischer Hilfe etwas erholen könnte. Nachdem schon alles organisiert war, kam dann doch alles anders. Nun wird die Familie zu ihrem Schutz in das Containercamp in Kara Tepe gebracht, das nur von Akkreditierten betreten werden darf. Die Wohnung soll jetzt an eine andere Familie gehen, die besonderen Schutzes bedarf. „Wir haben schon eine Wohnung an eine Frau vermittelt, die auf der Flucht vergewaltigt wurde, die kann jetzt nicht in so einer Stresssituation wie im Camp leben“, berichtet Blancke. Auch an ein Paar, deren Sohn an Knochenkrebs erkrankt sei, habe sie schon eine Wohnung vermittelt.
"Hilfe vor Ort" kommt bisher nicht bei den Menschen an
7300 Menschen leben derzeit in Kara Tepe. Die oft beschworene „Hilfe vor Ort“ kommt bisher nicht wirklich an. Die gelieferten Zelte sind großteils nicht winterfest. Man wolle einen „Pull-Effekt“ vermeiden, lautet das Credo des österreichischen Bundeskanzlers – man wolle keine Flüchtlinge nach Europa „anziehen“ und keine Kinder aus Lesbos aufnehmen. Abschreckend ist Kara Tepe aber jetzt schon zur Genüge. Astrid Castelin, die Leiterin des UNHCR auf Lesbos, erklärte kürzlich gegenüber Ö1, dass die Heizgeräte, die Österreich geschickt hat, bisher nicht funktionierten, da Kara Tepe noch nicht ans öffentliche Stromnetz angeschlossen sei. Die Geräte bräuchten 3000 Watt Leistung, während derzeit nur 1000 Watt verfügbar sind. Eine Hilfsorganisation vor Ort könne diese aber möglicherweise umrüsten. UNHCR habe der griechischen Regierung Entwürfe vorgelegt, wie man anstelle der Zelte auf Container umstellen könnte, die leichter zu heizen seien; entscheiden müsse das aber die Regierung in Athen.
Es fehle am Nötigsten, berichtet auch Doro Blancke. Die zeitweise coronabedingte Schließung von Geschäften, die nicht der Grundversorgung dienen, macht die Lage noch schwieriger. „Ich brauchte kürzlich beispielsweise Thermoskannen für die Mütter der Neugeborenen, das war eine echte Herausforderung. Es gibt kaum warmes Wasser im Camp für die Milch, die Familien heizen Wasser über Feuern vor ihren Zelten auf.“
Frauen müssen teils in Zelten gebären
Eine Geburtenstation gibt es in Kara Tepe nicht. „Wenn sie Glück haben“, so Blancke, „werden sie mit der Rettung zur Geburt in das Krankenhaus gebracht und dürfen drei bis vier Tage dortbleiben. Etliche Frauen gebären ihre Kinder aber auch in ihren Zelten, mit der Hilfe von ehemaligen Hebammen oder Freundinnen. Es ist absolut grauenhaft. In den Tagen danach hat man ja Nachblutungen. Die Frauen im Camp haben nicht einmal warmes Wasser, um sich zu waschen. Für mich ist das strukturelle Gewalt gegen Frauen.“
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) spricht von „unmenschlichen Bedingungen“
Damit seien auch die Gestrandeten in den Lagern auf anderen griechischen Inseln wie Samos, Leros, Kos und Chios konfrontiert. In Samos starteten die Ärzte eine Tetanus-Impfkampagne: „Durch die unhygienischen Bedingungen ist das dortige Lager voller Ratten, immer wieder wurden Kleinkinder mit Rattenbissen zur Behandlung in unsere Klinik gebracht“, so ein Sprecher der Organisation. „So darf man Menschen nicht behandeln - Europa darf das nicht!“, kommentiert Doro Blancke die Lage. „Das ist ein Verbrechen!", ärgert sie sich über Politiker, die "solche Entscheidungen treffen und diese dann auch noch verteidigen“, so die Helferin.
Blancke appelliert an Österreich, schneller zu handeln
Die EU-Kommission hat Anfang Dezember angekündigt, dass griechische und EU-Behörden bis September 2021 ein „neues und dem Standard entsprechendes Aufnahmelager“ auf Lesbos errichten würden. Doro Blancke begrüßt diesen Schritt, warnt aber gleichzeitig auch vor einem weiteren Winter mit unwürdigen Zuständen im Camp. Sie appelliert schon jetzt an die österreichische Bundesregierung zumindest hundert schutzsuchende Familien in Österreich aufzunehmen, um als gutes Vorbild voranzugehen.