Sie haben 2017 in einer Studie gezeigt, wie stark vernetzt und aktiv die Muslimbrüder in Österreich sind. Wie hat sich das Netzwerk durch politische Maßnahmen verändert?
LORENZO VIDINO: Die Muslimbrüder sind seit Jahrzehnten in Österreich präsent und das Netzwerk ist mit den Jahren wirklich gewachsen. Man kann aber mit Fug und Recht behaupten, dass es in den vergangenen fünf Jahren auf der politischen Ebene stärker unter Druck geraten ist. Das begann mit dem Islamgesetz 2015 und der sich wandelnden Atmosphäre in Österreich. Davor war das Land eine äußerst freundschaftliche Lebenswelt für die Bruderschaft. Das Umfeld wurde in Österreich schwieriger, aber das Netzwerk ist nicht verschwunden, es hat sich angepasst. Die Bruderschaft erlebt ja einen weltweiten Aufschwung. Sie überlebt selbst dort, wo der Druck milliardenfach größer ist als in Österreich. Wir sprechen von Ägypten oder Syrien. Das ist eine Bewegung, die extrem widerstandsfähig und anpassungsfähig ist.
Wie zeigt sich das?
VIDINO: Die Jahre sind vorbei, in denen die Muslimbrüder Geld vom österreichischen Staat erhielten, und von allen Seiten - von den Medien über die Rathäuser bis hin zu den Ministerien - als gut und moderat angesehen wurden. Ihr Image und ihre Reputation hat sich verändert - nicht überall, aber offensichtlich in weiten Teilen der Gesellschaft. Die Bewegung passt sich aber an und wehrt sich. Natürlich macht sie das nicht mit Gewalt oder militärisch, sondern politisch und rechtlich. Sie bedient sich hiesiger Mittel und entwickelt sich somit weiter. Die Aktivisten sind meist Österreicher, die seit Jahrzehnten hier leben oder geboren wurden. Es ist also eine österreichische Bewegung, genauso wie es deutsche, französische oder andere Körperschaften gibt.
Sie sind Teil der neu gegründeten Dokumentationsstelle für Islamismus in Österreich. Sehen Sie die als ein wirkungsvolles Mittel, dem politischen und radikalen Islam beizukommen?
VIDINO: Ich kann jetzt schlecht nein sagen. Wir stehen noch am Anfang. Die Dokumentationsstelle wurde erst im Juli gegründet. Daher ist es noch unmöglich, die Arbeit zu diesem Zeitpunkt zu beurteilen. Der theoretische Ansatz klingt aber sehr gut, sonst würde ich auch nicht so enthusiastisch daran teilnehmen. Das ist etwas, was in viele europäische Hauptstädten diskutiert und in Erwägung gezogen wird. Nachdem die britische Regierung 2014 die Muslimbruderschaft überprüft hat, war eine der politischen Empfehlungen, eine Einheit zu gründen, die so aufgebaut ist wie nun die Dokumentationsstelle. Die Dokumentationsstelle soll Wissen über eine sehr komplexe und sich ständig verändernden Materie zusammentragen und in allen Regierungsstellen von den obersten Ministerien bis zu den kleinsten Rathäusern verbreiten. Und natürlich auch die Öffentlichkeit informieren. Mir scheint das ein wertvolles Werkzeug und ich hoffe, dass es sich in der Praxis auch bewährt.
Warum outen sich Salafisten und Muslimbrüder so ungern?
VIDINO: In gewissem Maße sind Salafisten in dieser Hinsicht ehrlicher und offener als Muslimbrüder. Sie spielen jedenfalls bei ihren Ansichten kein Versteckspiel. Die meisten Salafisten verbergen nicht, was sie denken. Sie sind keine so versierten Politiker wie die Muslimbrüder. Es sind selbstverständlich nicht alle Salafisten gleich, es gibt unterschiedliche Tendenzen im Salafismus. Aber die meisten Salafisten sagen ehrlich, dass sie diese Gesellschaft für korrupt halten, dass sich ein guter Moslem von Andersgläubigen und der österreichischen Gesellschaft insgesamt fernhalten soll. Das mögen wir nicht gutheißen, aber es ist immerhin ehrlich. Die Muslimbruderschaft ist da heimtückischer, weil sie verstecken will, was sie genau ist. Die Muslimbrüder zeigen sich im Anzug mit Krawatte und breitem Lächeln. Sie verwenden die richtige Sprache der Integration und Demokratie und haben damit Vertrauen aufgebaut in der Regierung, bei den Medien und in der Zivilgesellschaft. Allerdings verfolgen sie eine völlig andere Agenda. Das ist der Hauptgrund, warum ich Muslimbrüder argwöhnischer betrachte und als problematische ansehe als Salafisten.
Wie finanzieren sich die Muslimbrüder in Österreich?
VIDINO: Das hat sich über die Jahre verändert. Es ist aber wichtig zu betonen, dass die Förderung einer jener Gründe ist, warum sie so prominent sind. Die Muslimbruderschaft ist eine sehr kleine Gruppe in Österreich. Wir reden im Kern über einige Hundert Personen. Das ist keine Massenbewegung, aber sie hat einen disproportionalen Einfluss. Warum sie so gut sind, in dem was sie tun, hat zwei Gründe. Die Leute sind einerseits gut ausgebildet, sprechen sehr gut Deutsch und versehen das System. Andererseits haben sie sehr guten Zugang zu Fördertöpfen, die andere Muslimbruderschaften so nicht haben.
Aber wie haben Sie das erreicht?
VIDINO: Sie bekommen viel Geld über ihre Gemeinschaft. Etwa durch Spenden in den Moscheen. Sie bekommen es zweitens durch ihre eigenen wirtschaftlichen Unternehmungen. Viele dieser Muslimbrüder, was ich meiner Studie auch im Detail aufzeige, haben ihre eigenen Firmen und sind sehr erfolgreich. Sie fördern über Fonds das Netzwerk. Bis vor einigen Jahren bekamen sie auch Geld vom Staat. Das allerdings ist nicht einzigartig in Österreich, das gibt es auch in anderen Ländern. Sie haben zum Beispiel Einrichtungen, die Geld von verschiedenen Behörden oder lokalen Kommunalverwaltungen für ihre Integrationsarbeit, Flüchtlingsbetreuung oder Deradikalisierungsprogramme erhalten. Die vierte und wichtigste Quelle sind Mittel aus dem Ausland. Es handelt sich dabei überwiegend um Geld aus den Golfstaaten. Früher waren das mehrere Geber, heute kommt es aus Kuwait und vor allem aus Katar. Meine französischen Kollegen Christian Chesnot und Georges Mulbrunot haben das in ihrem Buch „Qatar Papers“ aufgedeckt. Sie haben gezeigt, wohin die Gelder der Organisation „Qatar Charity“ gegangen sind. Es ging an jene Stellen, bei denen wir das auch vermuten haben.
Es gibt Hinweise, dass viele Deradikalisierungsprogamme in Österreich von Muslimbrüdern unterwandert sind? Haben Sie da genauere Erkenntnisse?
VIDINO: Aus verschiedenen Gründen ist es mir nicht möglich, dazu eine konkrete Antwort zu geben. Aber lassen Sie mich die Frage in allgemeinerer Form beantworten. In Österreich sehen wir genau das, was wir auch in Deutschland beobachten. Einzelne und vor allem jüngere Personen, die Teil des Muslimbrudernetzwerks sind, gründen Kleinunternehmen, die in das Geschäft der Deradikalisierung einsteigen. Und ich nenne es bewusst vom Vorsatz her ein Geschäft. Für sie ist es eine angenehme und kluge Art, Fördergelder einzunehmen, in das System hineinzuwachsen und gleichzeitig Rechtmäßigkeit und Glaubwürdigkeit zu erwerben. Sie können dann behaupten: Schaut her, wie sind nicht radikal und helfen dem Staat dabei, gegen Radikale anzukämpfen. Diese Leute sind keine Terroristen und auch nicht an Gewalt beteiligt. Dennoch ist es fragwürdig angesichts ihrer Ziele, ob man tatsächlich mit ihnen zusammenarbeiten sollte.
Welche Ziele verfolgen die Muslimbrüder in Österreich?
VIDINO: Hauptsächlich wollen Sie die Repräsentanten und Anführer der muslemischen Gemeinschaft werden oder diese mindestens beeinflussen. Sie wollen die muslimische Gemeinschaft hin zu ihren politischen und religiösen Auffassungen des Islam führen. Außerdem wollen sie die allgemeine Debatte und politische Entscheidungsfindung über alle Themen, die sie betreffen, in ihrer Weise beeinflussen. Die Muslimbruderschaft ist eine recht pragmatische und realistisch eingestellte Gruppe. Sie wollen Österreich nicht in einen islamischen Staat verwandeln, jedenfalls nicht in der aktuellen Verfassung. Sie wollen lediglich eine Parallelgesellschaft gestalten und diese dann auch managen. Sie wollen ihre eigenen Schulen, ihr eigenes Ausbildungssystem, ihre eigenen Krankenhäuser und Friedhöfe, ihre eigenen Unternehmen und so weiter. Dieses System wollen dann die Muslimbrüder selbst überwachen.
Wie funktioniert das praktisch?
VIDINO: Das funktioniert nicht nur über die Moscheen. Das ist eine viel breitere Einflussnahme. Zum Beispiel über das Schulsystem. Deshalb schaut der österreichische Staat auch so genau hin, was im islamischen Religionsunterricht gelehrt wird. Deshalb drängen die Muslimbrüder auf ein eigenes Schulsystem und eigene Lehrkräfte. Sie sehen den Islam als ein allumfassendes Lebensmodell. Jedes Details des persönlichen Lebens ist im Islam geregelt. Und die Muslimbrüder wollen jene sein, die diese in unzähligen Büchern aufgeschriebenen Regeln auslegen. Zum Beispiel wollen sie überwachen, ob ein islamisches Geschäft, tatsächlich nur Lebensmittel verkauft, die halal sind. Und mit diesem Siegel wollen sie dann wieder Geld verdienen. Dieses System streben sie jedenfalls an.
Welche Bedeutung haben die österreichischen Muslimbrüder im europäischen Netzwerk?
VIDINO: Das Netzwerk ist nach meiner Beobachtung in ihren Zielen und Ansichten vergleichbar mit anderen europäischen Gruppen. Nicht weniger und auch nicht mehr radikal. Bisher haben wir aber nur über die Ziele der Muslimbrüder innerhalb eines Land gesprochen. Wenn man allgemein über die Muslimbrüder spricht, gibt es auch immer eine Komponente, die der Gewalt nahekommt und in unterschiedlicher Weise Terrorismus außerhalb von Österreich unterstützt. Muslimbrüder unterstützen die Hamas in Palästina, sie unterstützen Gruppen in Syrien, Ägypten und Libyen. Wenn man auf die Muslimbruderschaft schaut, gibt es nicht nur schwarz oder weiß. Die meisten Dinge, die sie tun, münden im politischen Aktivismus. Das können wir negativ und problematisch für unsere Gesellschaften in Europa halten, ist aber meist legal. Dann gibt es aber noch diese dunkle Seite, die sich um finanzielle und ideologische Unterstützung dreht. So funktioniert die Muslimbruderschaft aber in allen westlichen Ländern. Das österreichische Netzwerk hat allerdings eine starke Stellung im europäischen Kontext, wenn es auch nummerisch eher klein ist.
Wie kann man das Narrativ des Muslims als Opfer durchbrechen und trotzdem kritisch dem politischen Islam begegnen, ohne sofort islamophob zu sein?
VIDINO: Das ist zugegebenermaßen schwierig. Auf jede Anklage des Islamismus folgt stets der unmittelbare Vorwurf, rassistisch und islamophob zu sein. Diese Reaktion kommt nicht nur von der Muslimbruderschaft selbst, sondern auch von ihren Sympathisanten, die es oft gut meinen, aber nicht wirklich viel über die Organisation wissen. Es gibt keine magische Lösung. Die Lösung braucht eine Sprache, die akkurat und nicht stigmatisierend ist. Sie muss so präzise wie möglich und darf zugleich nicht nachgebend sein. Und die Anklagen müssen von Muslimen selbst unterstützt werden. In Deutschland und Österreich habe ich dazu einige ermutigen Beispiele in der letzten Zeit gesehen, wo sich prominente Muslime deutlich zu Wort gemeldet haben.
Ingo Hasewend