Die Sanktionsdrohungen der Europäischen Union gegen die Türkei zeigen Wirkung. Drei Wochen vor dem EU-Gipfel, bei dem die Staats- und Regierungschefs Strafmaßnahmen gegen Ankara beschließen könnten, gibt sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan versöhnlich. Von der Charmeoffensive könnte auch ein prominenter politischer Gefangener profitieren.
„Wir sehen uns in Europa, nirgendwo sonst, und wir wollen unsere Zukunft gemeinsam mit Europa gestalten“, sagte Staatschef Erdoğan am Wochenende in einer Videobotschaft beim Regionalkongress seiner Ak-Partei im westtürkischen Kütahya. „Wir sehen uns als untrennbaren Teil Europas“, so Erdoğan. Am Freitag hatte Erdogan seinen Sprecher Ibrahim Kalin nach Brüssel geschickt. Kalin warb dort bei Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel für das „strategische Ziel“ eines türkischen EU-Beitritts. Bereits vor zehn Tagen hatte Erdoğan„eine neue Periode der Reformen in der Wirtschaft und im Rechtssystem unseres Landes“ angekündigt.
Vor drei Jahren klang das noch ganz anders. Da nannte Erdoğan Europa einen „verrotteten Kontinent“, der „von Nazi-Überbleibseln besiedelt“ sei. Erst Ende Oktober hatte Erdoğan dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron empfohlen, sich auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen und zu einem Boykott französischer Waren aufgerufen. EU-Politikern wie Macron und Kanzlerin Angela Merkel bezichtigte Erdoğan, sie seien „Faschisten im wahrsten Sinne des Wortes“ und „das jüngste Glied der Nazi-Kette“.
Unglaubwürdiger Sinneswandel
Was steckt hinter den Schalmeientönen, die Erdoğan jetzt anschlägt? Erdogan hat aus seiner Verachtung für europäische Werte nie einen Hehl gemacht. An einen Sinneswandel glauben deshalb die wenigsten Beobachter, eher an einen Schachzug. Am 10. Dezember wollen die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen beraten, ob sie Sanktionen gegen die Türkei verhängen, die im östlichen Mittelmeer mit Kriegs- und Forschungsschiffen den EU-Staaten Griechenland und Zypern ihre Wirtschaftszonen streitig macht. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sieht die Beziehungen zur Türkei an einem „Wendepunkt“.
Sanktionen wären das letzte, was Erdoğan jetzt braucht. Die Lira hat dieses Jahr 30 Prozent ihres Außenwerts verloren. Erdogans Politik des billigen Geldes ist gescheitert. Die Zentralbank wirft jetzt das Steuer in der Geldpolitik herum und erhöht massiv die Zinsen. Das bremst die ohnehin schwache Konjunktur. EU-Sanktionen würden die Talfahrt noch beschleunigen.
Kommt Osman Kavala frei?
Lippenbekenntnisse zu Europa werden die EU-Politiker allerdings kaum umstimmen. Das weiß auch Erdoğan. Offenbar gibt es in Ankara Überlegungen, die Wiederannäherung an die EU mit einer großen Geste zu flankieren: Die türkische Justiz rollt jetzt den Fall Osman Kavala neu auf. Der regierungskritische Unternehmer und Mäzen sitzt seit über drei Jahren wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft. Erdoğan warf Kavala in einer Rede am Sonntag erneut vor, er habe die landesweiten Proteste gegen die Regierung im Frühsommer 2013 angestiftet und finanziert. Der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte untersucht derzeit allerdings die Gerichtsentscheidungen, die zu Kavalas Inhaftierung führten. Am Ende der Prüfung könnte die Freilassung des prominenten politischen Gefangenen stehen – womöglich rechtzeitig zum EU-Gipfel.
Auch im Streit um die Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer zeigt sich Ankara konziliant. Am Sonntag kreuzte das türkische Forschungsschiff „Oruc Reis“ zwar auf der Suche nach Erdgas zwischen den griechischen Inseln Rhodos und Kastelorizo. Erdoğan-Berater Kalin sagte aber, das Schiff werde Ende November seine Mission beenden. Auch hier darf man einen Zusammenhang mit dem Treffen des Europäischen Rats im Dezember vermuten. Obwohl: Bereits Mitte September zog die Türkei die „Oruc Reis“ im Vorfeld eines EU-Gipfels von der Gassuche ab und erklärte sich zu Sondierungsgesprächen mit Griechenland bereit. Vier Wochen später kehrte das Schiff aber wieder zurück, eskortiert von Fregatten und U-Booten der türkischen Kriegsmarine. Griechenland sagte daraufhin die Verhandlungen ab.
unserem Korrespondenten Gerd Höhler aus Athen