Die Debatte über den EU-Haushalt und den damit gekoppelten Corona-Rettungsfonds klingt so, als gehe es um ein episches Ringen zwischen den Kräften des Guten (EU) und dem Reich des Bösen (Ungarn und Polen sowie dessen Regierungschefs Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki). In Wahrheit geht es um einfache Interessenpolitik. Und um Verhandlungstaktik. Der Cliffhanger gehört dabei zum Geschäft – also ein Verhandlungspartner tut so, als würde er alles hinwerfen, wenn er nicht bekommt, was er will. Am Ende fällt dann doch niemand von der Klippe.
In den Verhandlungen auf dem Brüsseler Gipfel 2019 war es der Niederländer Mark Rutte, der mit Veto drohte. Orbán versteht sich genauso darauf. Im Kern geht es genau um diese beiden Pole. Natürlich setzt sich auch das Europaparlament in Szene und möchte relevant sein, mit harten Forderungen.
Die "sparsamen Vier"
Rutte und die von ihm angeführten „sparsamen Vier“ versuchen das Projekt indirekt zu torpedieren. Dafür genügt es, auf Bedingungen zu pochen, die Ungarn und Polen nicht annehmen können. So schiebt Rutte ihnen den Schwarzen Peter für ein Scheitern zu – indem er einen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus fordert, der für alle Zukunft alle EU-Gelder an politische Bedingungen knüpfen würde, die schwer zu definieren sind und leicht zur politischen Druckausübung missbraucht werden können. Ungarn und Polen haben denn auch ihr Veto eingelegt. Die Alternative wäre ein Rutte-Veto gewesen, wenn die EU ihnen entgegenkommt.
Ungarn und Polen sehen den wirtschaftlichen Aspekt der Debatte paradoxerweise ähnlich wie die „sparsamen Vier“. Beide Länder wachsen seit Jahren deutlich schneller als die Eurozone, haben ihre Schulden im Griff und kaum Arbeitslosigkeit. Wie die Niederländer können sie Kredite, die sie zur Krisenbewältigung brauchen, einfach auf dem Kapitalmarkt bekommen, ohne den Umweg über eine gemeinsame EU-Kreditaufnahme zu gehen. Sie brauchen das Rettungspaket nicht.
Sie unterstützen den Fonds nur aus einem Grund: Um sich der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen als konstruktive Partner zu empfehlen. Der Fonds ist Merkels Prestigeprojekt, es fällt in die deutsche Ratspräsidentschaft, Ungarn und Polen wollen dem zum Erfolg verhelfen. Aber sie wollen sich dabei nicht politisch erpressbar machen. Die Kopplung von EU-Mitteln an einen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus öffnet dem die Tür. Dabei geht es nicht einmal um den aktuellen Inhalt des Vorschlags, der als Kriterium für einen Mittelentzug „mangelnde Unabhängigkeit der Justiz“” vorsieht. In Zukunft könnten Nachschärfungen hinzukommen. Mangelnde Pressefreiheit, Umgang mit NGOs, Missachtung des Asylrechts – das könnte irgendwann finanziell bestrafbar werden. Man kann das als Beharren auf fragwürdigen Machtmitteln betrachten. Es ist aus ungarischer und polnischer Perspektive dennoch so, dass sie die Forderung unfair finden.
Finanzielle Nachteile müssen Ungarn und Polen wegen ihres Vetos nicht unmittelbar befürchten. Zur Bewältigung der Coronakrise können sie selbst Kredite aufnehmen, EU-Gelder würden im Rahmen eines Nothaushalts nächstes Jahr weiterhin fließen. Bemessungsgrundlage dafür wäre der aktuelle, bis Ende 2020 gültige Haushaltsrahmen. Dieser ist großzügiger als der künftige, in dem Ungarn und Polen deutlich weniger Geld bekommen würden. Es ist also unwahrscheinlich, dass ihr Veto sie finanziell schmerzen wird.
Boris Kálnoky leitet die Medienschule des Mathias Corvinus Collegium in Budapest.