Sie ist die älteste und einflussreichste islamistische Bewegung des Nahen Ostens. 1928 vom Lehrer Hassan al-Bannā im ägyptischen Ismailiagegründet, breitete sich die Muslimbruderschaft in den folgenden Jahrzehnten in fast allen arabischen und mehrheitlich muslimischen Ländern aus.
Nach dem Willen ihres Initiators sollten Bildung und Erziehung der jungen Generation sowie der Bau von Schulen und Moscheen im Mittelpunkt stehen, um die nahöstlichen Gesellschaften von der gottlosen westlichen Dekadenz zu reinigen und die islamischen Moralvorstellungen wieder durchzusetzen. Ziel al-Bannās und seiner Getreuen war ein authentischer muslimischer Staat, der alle Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens im Sinne der Scharia regelt. Er und seine Männer leisteten einen Treueid auf Allah und schworen, als Brüder leben und sich ganz in den Dienst des Islams zu stellen.
1936 wandte sich al-al-Bannā in einem Traktat mit dem Titel „Aufbruch zum Licht“ an den ägyptischen König und an andere arabische Staatsoberhäupter. Er forderte den bewaffneten Dschihad gegen Nicht-Muslime und deren Helfer, eine Haltung, die der 1966 in Ägypten hingerichtete Chefideologe der Organisation, Sayyid Qutb, weiter zuspitzte. Er rechtfertigte auch den Einsatz von Gewalt gegen nachlässige Muslime, um eine perfekte Gesellschaft der Rechtgläubigen durchsetzen zu können.
Repression und Aufstieg zur globalen Bewegung
Die Vorstellung einer solchen umfassenden islamischen Lebensordnung beeinflusste in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich das politische, religiöse und soziale Bewusstsein der arabischen Nationen. Deren säkulare Regime sahen die Muslimbrüder aber als subversive Gegner, die ihnen im Namen der Religion die Macht entreißen wollten und die hart unterdrückt werden müssten.
Trotz dieser Repressionen ist die Muslimbruderschaft heute eine globale Bewegung in mehr als dreißig Ländern – im Nahen Osten, in Europa, Asien und Afrika. Ihre Filialen operieren vielfach im Untergrund, ihre Aktivitäten sind schwer zu durchschauen und haben sehr verschiedene Profile. Einzelne Gruppen in Syrien, im Libanon und in Palästina zählen zum radikalen Flügel, der den Einsatz von Gewalt befürwortet. Bekanntestes Beispiel ist die Hamas im Gazastreifen, die sich als Frontorganisation im Kampf gegen Israel versteht und bereits mehrere Kriege führte. Auch auf der Arabischen Halbinsel, dem Kernland des Islams, haben sich Bruderschaften etabliert, so in Bahrain, Kuwait und im Jemen.
Die erste Friedensnobelpreisträgerin der arabischen Welt, Tawakkul Karman, gehört der Islah-Partei an, dem jemenitischen Zweig der Bruderschaft. Die „Islamische Aktionsfront“ in Jordanien gilt als wichtigste Kraft der Opposition. Am moderaten Ende des Spektrums stehen die islamistischen Parteien von Marokko und Tunesien, die in beiden Nationen an der Regierung beteiligt sind.
Ausgelöst durch den Arabischen Frühling 2011 durchziehen heute jedoch zwei tiefe Gräben den Nahen Osten. Der eine trennt Sunniten und Schiiten, der andere trennt die Sunniten in Staaten, die die Ideologie der Muslimbrüder fördern, und jene, die sie mit aller Macht unterdrücken.
Die Türkei hofiert die Muslimbrüder
Zu der Allianz der Anti-Muslimbruder-Regime gehören die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Saudi-Arabien und Bahrain. Zur Allianz der Pro-Muslimbruder-Regime zählen vor allem die Türkei und Qatar. Im libyschen Bürgerkrieg stehen sich beide Lager militärisch gegenüber.
Ägyptens Muslimbrüder gehören zu den Eckpfeilern der islamistischen Bewegung, auch wenn sie nach dem Mitte 2013 vom Militär erzwungenen Sturz des Muslimbruder-Präsidenten Mohamed Mursi härtesten Repressionen ausgesetzt sind. 60.000 Menschen sitzen als politische Gefangene hinter Gittern, die Mehrheit von ihnen Muslimbrüder. Zahlreiche Führungskader sind zum Tode oder zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.
Die Organisation ist stark hierarchisch organisiert. Auch wenn sie am Nil seit 2013 als Terrororganisation eingestuft ist, haben die Muslimbrüder etwa bei Ärzten, Apothekern, Lehrern und Ingenieuren nach wie vor hohen Einfluss. Die Zahl ihrer Vollmitglieder wird landesweit auf 500.000 geschätzt. Mitglied der Organisation zu werden, ist ein langer, genau geregelter Prozess über mehrere Stufen. Dabei werden die religiöse Bildung, aber auch Charakter, Haltungen und Lebenswandel der designierten Mitglieder genau beobachtet und geprüft. Vier oder fünf Aktivisten bilden im Alltag eine Zelle, die genannte „Usra“, das arabische Wort für Familie.
Ihre Ideologie basiert auf einer Handvoll von Prämissen. Die Welt wird eingeteilt in Gläubige und Ungläubige, also Muslime und Nicht-Muslime. Der Islam ist in ihren Augen allen Religionen und Weltanschauungen überlegen. Mann und Frau gelten zwar vor Gott als gleich, nicht aber auf Erden, wo sie unterschiedliche Rechte und Pflichten haben. Ihre Vertreter lehnen eine liberale Demokratie genauso ab wie die Trennung von Staat und Religion. Kritiker jedoch wenden ein, ein Staat mit einer explizit-religiösen Doktrin könne keine offene Gesellschaft, keine öffentliche Toleranz und keine stabilen demokratischen Verhältnisse schaffen. Denn der Anspruch des Staates im Namen des Islams sei quasi totalitär. „Der Islam ist die Lösung“, heißt das universelle Motto der Bewegung. Entsprechend kennt der politische Islam der Muslimbrüder selbst in privatesten Angelegenheiten und höchstpersönlichen Glaubensüberzeugungen keinen Schutz vor staatlichem Zwang.
Expansion in den Westen
In den späten 50er- und frühen 60er-Jahren baten Muslimbrüder erstmals in Europa und Nordamerika um Asyl. Die meisten flohen aus Ägypten vor den Repressionen des Regimes von Gamal Abdel Nasser. In den 70er-Jahren kam die Millî-Görü-Bewegung aus der Türkei hinzu, die ideologisch mit der Muslimbruderschaft verwandt ist.
Heute verfügt der politische Islam in Europa über ein dichtes Netzwerk an Vereinen und Moscheen. Allein die Muslimbrüder kontrollieren ein frommes Imperium von über zweihundert Organisationen, darunter Bildungseinrichtungen, Koranschulen und Moscheen. Ein Hauptsponsor ist der superreiche Zwergstaat Qatar, wie durch ein Datenleck beim Hilfswerk „Qatar Charity“ herauskam. In ihrem Buch „Qatar Papers“ wiesen die französischen Journalisten Christian Chesnot und Georges Malbrunot nach, dass Qatar allein 2014 insgesamt 72 Millionen Euro für über 100 fromme Projekte in vierzehn europäischen Ländern ausgab. Das Geld solle dafür sorgen, dass Muslime ihre religiöse Identität in den laizistischen Gesellschaften Europas nicht verlieren“, schrieben die Autoren. Doch dies seien „zweifellos Ansätze zu Gegengesellschaften, die das Entstehen von Parallelgesellschaften begünstigen – was langfristig gefährlich werden könnte“.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen aus Tunis