Es war kurz nach halb drei Uhr morgens, als US-Präsident Donald Trump eine unübersichtliche Situation in eine Krise verwandelte. Im ganzen Land warteten noch Millionen Stimmen darauf, ausgezählt zu werden, da verkündete das Staatsoberhaupt das Rennen fälschlicherweise für gelaufen.
„Wir haben die Wahl gewonnen“, so Trump ohne Grundlage. Dann drohte er an, das weitere Auszählen von Wahlzetteln durch den Obersten Gerichtshof stoppen lassen zu wollen. Es wäre ein nie da gewesener Angriff auf die Spielregeln der ältesten Demokratie der Welt. Dass dem Präsidenten eine klare rechtliche Grundlage für seine Androhung fehlt, macht die Sache nicht besser.
Trumps Rede im East Room des Weißen Hauses erfüllte die schlimmsten Befürchtungen zahlreicher Beobachter. Seit Monaten hatte der Präsident die Frage offengelassen, ob er eine Wahlniederlage akzeptieren und einen friedlichen Machtwechsel in Washington ermöglichen würde. Nun stellte er sich offen gegen die demokratischen Gepflogenheiten.
Schnell machte gar das Wort vom „Staatsstreich“ in der Hauptstadt die Runde. Trump, der Regelbrecher, schien die ultimative Norm gebrochen zu haben. Den restlichen Tag über befeuerte er die Unsicherheit noch durch seine Twitterei.
Ein ernüchternder Abend
Für Trumps Gegner in der Wahl, die Demokraten, war die Ankündigung der Höhepunkt an einem ernüchternden Abend. Dabei hatten sie ihn sich so ganz anders vorgestellt. Seit Wochen, nein, Monaten hatte ihr Kandidat, Ex-Vizepräsident Joe Biden, in den Umfragen mit großem Abstand vor dem Präsidenten gelegen. Die Abstimmung, so die Hoffnung zahlreicher Berater und Strategen, könnte schon früh entschieden sein – mit einer deutlichen Zurückweisung der Ära Trump.
Überlegene Siege in Swing States wie Florida und North Carolina sowie ein starkes Abschneiden in traditionell republikanischen Hochburgen wie Georgia und Arizona würden dem Präsidenten nicht nur den Pfad zu weiteren vier Jahren im Weißen Haus verbauen – sie würden auch Biden ein breites Mandat für die Umsetzung einer progressiven Agenda liefern. Mancher alte Haudegen sah sich gar an die Erdrutschsiege der 1980er-Jahre erinnert, andere spekulierten über einen demokratischen Triumph im tiefroten Texas.
Es dauerte allerdings nicht lange, bis fast alle diese Wünsche verflogen waren. Als sich Florida auf den Wahlkarten der Fernsehsender zunehmend rot färbte, spürten die Demokraten, dass sie ein Problem haben. Bald stellte sich heraus, dass Biden zwar in den umkämpften Vorstädten im Vergleich zu Hillary Clinton vor vier Jahren zulegen konnte, doch in traditionell eigenen Hochburgen wie dem County Miami-Dade schnitt er enttäuschend ab. Unterm Strich reichte es damit für den Herausforderer nicht. Florida ging an Trump. Und auch anderswo war der Präsident plötzlich stärker als erwartet. Damit war klar: Einen schnellen Sieg würde es nicht geben.
Gedämpfte Erwartungen
Je länger sich der Abend hinzog, desto mehr dämpfte sich auch die Stimmung. Washington, das muss man wissen, ist der vermutlich demokratischste Fleck der USA. Kein Republikaner hat hier je gewonnen, Clinton holt vor vier Jahren 90 Prozent. Entsprechend gelöst war die Stimmung dann auch am Nachmittag direkt am Zaun des derzeit weiträumig abgesperrten Weißen Hauses, als die Erwartung eines klaren Biden-Siegs noch wie die warme Herbstsonne über der Stadt lag.
Später am Abend war davon nicht mehr viel übrig. Die Lage in der Regierungszentrale war zunehmend aufgeheizt. Mit der Hoffnung auf einen klaren Sieg verflog auch die Volksfestatmosphäre. Stattdessen wuchs die Angst vor Aggression. Die meisten Geschäfte in der Innenstadt hatten ohnehin vorsichtshalber Fenster mit Sperrholz verrammelt. Ein Polizeiaufgebot erledigte den Rest. Am Ende blieb es weitgehend ruhig – aller Anspannung zum Trotz.
Biden bemühte sich dennoch, die Motivation seiner Anhänger aufrechtzuerhalten. Kurz nach Mitternacht war er in seiner Heimatstadt Wilmington in Delaware auf die Bühne des Chase Center getreten, um Optimismus zu verbreiten. „Ich glaube, wir sind auf dem Weg, diese Wahl zu gewinnen“, so der Ex-Vizepräsident. Er sagte aber auch: „Es wird einige Zeit dauern, die Stimmen auszuzählen.“ Nach Trumps Auftritt rund zwei Stunden später änderte sich der Ton seiner Kampagne indes. Die empörenden Äußerungen des Präsidenten seien „der nackte Versuch, dem amerikanischen Volk seine demokratischen Rechte zu nehmen“, so Bidens Wahlkampfleiterin.
Dass Bidens Auftritt nicht nur Zweckoptimismus war, zeigte ein Blick auf die Karte. Denn auch wenn Trump das Rennen knapper machen konnte als erwartet, lief es doch nicht schlecht für den Demokraten. Einige Staaten müssen noch ausgezählt werden, doch bislang gelang es Trump nicht, Bidens Pfad zum Weißen Haus zu blockieren. Im Gegenteil. Der Ex-Vizepräsident konnte Arizona gewinnen, einen traditionell republikanischen Staat.
Auch im Senat ist es eng
Und er blieb in den „Rust Belt“-Staaten wettbewerbsfähig. Wisconsin und Michigan gewann er. In Georgia hielt Biden das Rennen lange Zeit offen. Es könnte noch Tage dauern, bis ein Endergebnis feststeht. Am Ende könnten Briefwahlstimmen entscheiden, die zum Teil noch morgen und übermorgen bei den Behörden ankommen können.
Doch selbst wenn Biden die Wahl für sich entscheiden kann, ist längst nicht klar, wie er in den kommenden vier Jahren würde regieren können. Denn nicht nur im Wahlmännerkollegium ist es knapp – auch der Senat ist denkbar eng. Die Ausgangsposition für die Demokraten war eigentlich gut. Kaum einer ihrer Senatoren war wirklich gefährdet, sein Amt zu verlieren. Einzige Ausnahme: Doug Jones, der vor drei Jahren völlig überraschend im tief roten Alabama gewonnen hatte. Stattdessen gab es für die Partei zahlreiche Gelegenheiten, Sitze zu gewinnen und die Mehrheit der Republikaner in der oberen Kongresskammer zu brechen.
Die bisherigen Zwischenergebnisse sind allerdings ernüchternd. Zwar konnten die Demokraten in Colorado und Arizona die republikanischen Amtsinhaber besiegen, andere Herausforderer scheiterten jedoch. Auch Jones verlor sein Rennen. Mehrere Sitze sind derzeit noch nicht entschieden.
Damit ist die Kontrolle über den Senat weiter in der Schwebe. Sollten die Republikaner ihre Mehrheit verteidigen, dürfte es ein möglicher Präsident Biden sehr schwer haben, seine Agenda auch nur ansatzweise umzusetzen. Im Repräsentantenhaus konnten die Demokraten ihre Mehrheit indes verteidigen.