Das Blut auf dem Steinboden der Basilika von Notre-Dame-de-l’Assomption ist noch nicht trocken, als draußen die ersten Wortgefechte ausbrechen. „Raus mit den Arabern“, schreit ein älterer Mann, eine Frau mit Kopftuch ruft zurück, den Ärger im Gesicht: „Was haben wir Muslime damit zu tun?“ Andere Passanten wiederholen hier, an der Polizeiabsperrung in der Rue Lamartine von Nizza, den Satz, mit dem Bürgermeister Christian Estrosi das Gefühl vieler Franzosen auf den Punkt bringt: „Genug ist genug“, Trop c’est trop. Es ist wieder passiert. Wieder in Frankreich. Drei Opfer diesmal.

Am Abend des Attentats heizte sich die Situation in Nizza weiter auf, als rund 200 Mitglieder der Identitären Bewegung über die Avenue Jean-Médecin marschierten, vor der Kirche Blumen ablegten und die Marseillaise anstimmten. „Islam raus aus Europa“, skandierten die jungen Männer. Tags darauf forderten prominente französische Politiker weitreichende Verschärfungen, ja, ein „französisches Guantanamo“.

Für Otmane Aissaoui ist es ein Albtraum. „Ich fühle mich an diesem Tag als Christ“, sagt der Imam der großen Al-Rhanar-Moschee in Nizza. Er fürchtet, was auch schon nach dem Attentat mit dem Laster auf der Uferpromenade vor vier Jahren passierte, dass nun wieder die 80.000 Muslime in der Stadt zu Sündenböcken werden. Er fürchtet, was sie in Frankreich oft das „Amalgam“ nennen: die Gleichsetzung des Islam mit dem Terrorismus. „Dieser Terrorist hat nichts mit dem Islam zu tun“, wiederholt der Imam. Dass der Täter „Allahu Akbar“ rief und einen Koran bei sich hatte, ändere daran nichts. „Unser geliebter Prophet hätte diese widerliche Tat niemals zugelassen. Sie werden hier in Nizza nicht einen einzigen Muslim finden, der das Attentat gutheißt“, versichert Aissaoui im Gespräch mit der Kleinen Zeitung.

„Wir müssen vereint bleiben, wir dürfen uns nicht gegeneinander aufhetzen lassen“, sagt der Imam, aber er klingt müde. Es wird immer schwerer, die Wut kleinzuhalten. Vor vier Jahren waren unter den 86 Todesopfern und 458 Verletzten zahlreiche Muslime. Diesmal sind es drei Christen, die hingerichtet wurden, beim Beten, durch „ein Tier“, sagt der Imam.

Mit großer Wut

Trop c’est trop. Genug ist genug. Auch Laura teilt dieses Gefühl. Die Mittfünfzigerin, die ihren Nachnamen nicht nennen will, ihr großes Kreuz aber demonstrativ über dem Trenchcoat trägt, geht selbst morgens oft in die Basilika Notre-Dame, um zu beten. „Drei Tage vor Allerheiligen“, sagt sie, bebend vor Empörung. „Diese Leute werden von katholischen Helfern versorgt. Im Winter werden sie in die Kirche gelassen, um sich aufzuwärmen“, sagt Laura, und auf die Nachfrage, ob sie mit „diesen Leuten“ Migranten meint, antwortet sie mit einem lauten Ja.

Die große Mehrzahl der islamistisch motivierten Attentate der letzten Jahre wurde nicht von Migranten, sondern von Franzosen begangen, jungen Männern, die in Frankreich aufgewachsen und in die Schule gegangen sind. Drei der vier jüngsten Attacken gehen allerdings auf das Konto von Zuwanderern. Da war der junge Pakistani, der am 25. September vor der ehemaligen Redaktion der Satirezeitung „Charlie Hebdo“ mit einem Messer zwei Menschen lebensgefährlich verletzte. Dasselbe gilt für den 18-jährigen Tschetschenen, der den Lehrer Samuel Paty am 16. Oktober auf offener Straße enthauptete. Im April tötete ein sudanesischer Flüchtling zwei Menschen mit einem Messer und verletzte fünf schwer.

Keiner von ihnen war erst so kurz in Frankreich wie der 21-jährige Tunesier Brahim A., der nun in Nizza zuschlug. Er war am 20. September auf der italienischen Insel Lampedusa gelandet und ging nach einer Corona-Quarantäne auf dem Fährschiff „Rhapsody“ am 9. Oktober im süditalienischen Bari an Land, mit der Verpflichtung, Italien wieder zu verlassen. Wie er nach Nizza kam, ist unklar. Am Samstag wurde in der Stadt ein dritter Mann festgenommen, der verdächtigt wird, dem Täter geholfen zu haben. Eine weitere Festnahme gab es in Tunesien.

Belastungsprobe

Wie viele Attentate hält eine Gesellschaft aus, ohne sich zu zerreißen? Wie viel Hass kann sie an sich abprallen lassen? Als Emmanuel Macron 2017 sein Amt antrat, war er ein junger Hoffnungsträger, der die Politik, das verkrustete Frankreich und ganz Europa verändern wollte. Dreieinhalb Jahre später stellt sich die Frage, ob je ein Präsident vor ihm so viele Krisen gleichzeitig meistern musste. Nach Streiks und Gelbwestenkrise, inmitten der Corona-Epidemie und einer Wirtschaftskrise, ist Macron zum Buhmann der muslimischen Welt geworden. Macrons Porträt und die Trikolore werden rund um den Globus mit Füßen getreten und verbrannt. Vom „Hass gegen die französische Zivilisation“, spricht der Philosoph Alain Finkielkraut: „Unsere Feinde verzeihen uns nicht, wer wir sind.“

Die Gründe dafür sind komplex. Mit sechs Millionen Gläubigen hat Frankreich die größte muslimische Gemeinschaft Europas. Die koloniale Vergangenheit, die schwierige, wenn nicht misslungene Integration der Zuwanderer aus ehemaligen Kolonien sind wichtige Faktoren. Der republikanische Kampf für die Laizität, die saubere Trennung von Staat und Religion, die frühen Schleierverbote in Schulen gehören zum Verständnis, auch das Auftreten als eine Nation der „Wiege der Menschenrechte“, die Meinungs- und Pressefreiheit als erste festgeschrieben hat. Dass Frankreichs Armee in der Sahelzone gegen Dschihadisten kämpft, gibt vielen Muslimen ebenfalls Anlass, das Land als Feind zu betrachten.

Womöglich zeigen sich in Frankreich deshalb gerade die Vorzeichen dessen, was der algerische Schriftsteller Boualem Sansal einen „totalen Krieg“ nennt. Er werde geführt von einer Art Staat „ohne Land, ohne Grenzen, ohne Hauptstadt, ohne Bürger, aber mit gläubigen Anhängern“, sagt Sansal. Es ist ein Krieg, der sich gegen Christen, Juden und Atheisten richtet, aber auch gegen jeden Muslim, der die Scharia nicht für das höchste Gesetz hält.