Nur Stunden nach der blutigen Messerattacke in Nizza mit drei Toten war Emmanuel Macron am Tatort. Begleitet vom konservativen Bürgermeister Christian Estrosi tauschte sich der Staatschef vor der Kirche Notre-Dame lange mit Rettern und Sicherheitskräften aus. Dabei trug er einen schwarzen Mund- und Nasenschutz. Später trat er mit versteinerter Miene vor die Kameras. "Unser Land wurde von einem islamistischen Terroranschlag getroffen", sagte er. Frankreich werde attackiert.
Der 42-Jährige steht nach rund dreieinhalb Jahren an der Macht vor seiner vielleicht schwierigsten Herausforderung. Er ist im In- und Ausland mit einer Ballung von Krisen konfrontiert, die man wohl beispiellos nennen kann. Es gibt eine neue Terrorserie, dazu kommen die unerwartet schnelle Ausbreitung der Corona-Pandemie und ein internationaler Streit um Mohammed-Karikaturen und Meinungsfreiheit, der in Teilen der muslimischen Welt für Kritik und Protest sorgt. Die coronabedingte Wirtschaftskrise kann für das hoch verschuldete Land zudem sehr gefährlich werden.
Erst vor gut einer Woche trat der mächtigste Franzose bei der Gedenkfeier für den Lehrer Samuel Paty auf, der in einem Pariser Vorort brutal ermordet wurde - die Leiche wurde enthauptet aufgefunden.
"Wir werden weitermachen mit diesem Kampf für die Freiheit und für die Vernunft (...)", versicherte Macron vor Schülern, Angehörigen und höchsten Vertretern des Staates. Er warf Islamisten vor, es auf die Zukunft des Landes abgesehen zu haben. Nach dem Anschlag auf den Lehrer verschärfte die Mitte-Regierung von Premier Jean Castex ihren Kampf gegen radikalen Islamismus - und verbot unter anderem zwei als radikal eingestufte Organisationen. Weitere Schritte dieser Art werden folgen. Für diesen Freitag berief Macron einen nationalen Sicherheitsrat ein.
Der islamistische Terrorismus erschüttert das Land seit Jahren, es gab bereits über 250 Opfer. Die tödliche Attacke in der Kirche im Herzen der Mittelmeermetropole Nizza kurz vor Allerheiligen ist die dritte innerhalb weniger Wochen. Ende September hatte ein junger Mann vor den ehemaligen Redaktionsräumen der Zeitschrift "Charlie Hebdo" zwei Menschen mit einem Messer verletzt.
"Das ist zuviel", resümierte Bürgermeister Estrosi mit Blick auf die Attacke in der Kirche. Seine Stadt war bereits vor rund viereinhalb Jahren Ziel eines schweren Terrorangriffs. Bei und nach dem Anschlag eines 31-Jährigen auf der Flaniermeile Promenade des Anglais starben am französischen Nationalfeiertag 14. Juli 2016 zusammen 86 Menschen.
Die neue Terrorserie trifft ein geschwächtes Frankreich, das gespalten und gelegentlich entmutigt wirkt. Das Land mit 67 Millionen Menschen ist - wie europäische Nachbarn auch - schwer von der zweiten Welle der Corona-Epidemie betroffen.
Erst am Vorabend der neuen Terrorattacke war der Staatschef erneut im Fernsehen aufgetreten. Er kündigte eine Rückkehr zu Ausgangsbeschränkungen an. "Confinement" lautet das Schlagwort auf Französisch, das man auch mit Lockdown übersetzen kann.
Medien sprachen von einem "schwarzen Szenario" und einer Folge von Ereignissen, die auf die Menschen traumatisierend wirken dürfte. "Wir sind Frankreich!", rief Macon seinen Landsleuten bei der TV-Ansprache zu und forderte zu Mut und Geschlossenheit in einer beispiellosen Krisenlage auf. In Nizza rief er erneut zur Einheit auf. Die ganze Nation unterstütze die Katholiken.
Frankreich wird auch auf internationaler Ebene angegriffen. Das Land wurde nach Einschätzung von Innenminister Gerald Darmanin zu einem Ziel. Hintergrund ist der Streit um die Wiederveröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in der Zeitung "Charlie Hebdo". Es gibt massive Kritik aus Teilen der muslimischen Welt. Macrons türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdogan rief dazu auf, französische Waren zu boykottieren.
Macron verteidigte bei mehreren Anlässen die Meinungsfreiheit im Land, die auch Gotteslästerung erlaube. "Wir werden nicht auf Karikaturen und Zeichnungen verzichten, auch wenn andere zurückweichen", versicherte er bei der Gedenkfeier für den Lehrer Paty. Der 47-Jährige hatte im Unterricht Mohammed-Karikaturen als Beispiel für Meinungsfreiheit gezeigt.
Das französische Außenministerium veröffentlichte bereits Sicherheitshinweise für mehrere mehrheitlich muslimische Länder, darunter die Türkei, Indonesien, der Iran und Bangladesch. Französinnen und Franzosen sollen sich von Protesten und öffentlichen Versammlungen fernhalten - so lautet die Warnung. Am Donnerstag griff ein Mann am französischen Konsulat in Jeddah in Saudi-Arabien einen Sicherheitsbeamten an und verletzte ihn leicht.
Macron kann den Franzosen in einer Lage mit vielen parallelen Krisen keine Sicherheit bieten. Eineinhalb Jahre vor der Präsidentenwahl ist die Auseinandersetzung mit seiner Erzfeindin Marine Le Pen von der Rechtsaußenpartei Rassemblement National (früher: Front National) eröffnet. "Wir brauchen eine Kriegsgesetzgebung", lautet ihr Motto im Kampf gegen den radikalen Islamismus. Le Pen hofft auf eine Revanche 2022 - bei der Wahl 2017 hatte sie gegen den sozialliberalen Macron den Kürzeren gezogen.
Christian Böhmer/dpa