"Schau nicht hin“, ruft ein Vater seiner kleinen Tochter zu, als sie am späten Vormittag an den Polizeiabsperrungen vor der Basilika Notre Dame vorbeikommen. Noch stehen vor der linken der drei Holztüren der Kathedrale nur Feuerwehrleute und Kriminalbeamte in weißen Schutzanzügen, über denen sie kugelsichere Westen tragen. Aber es wird nur noch wenige Minuten dauern, bis Frankreichs Präsident eintrifft und in der Nähe der Basilika das Wort ergreift.
Keine fünf Stunden nach einem islamistischen Terroranschlag in der in der Basilika Notre-Dame de l’Assomption von Nizza wird Emmanuel Macron auf dem Flughafen der Stadt an der Côtes d’Aur landen. Er will damit ein deutliches Zeichen setzen. „Wir werden angegriffen wegen unserer Werte, wegen unserer Freiheit“, sagt Macron und fügt hinzu: „Wir werden nicht nachgeben.“ Noch am Vormittag wurde die höchste Terrorstufe im gesamten Land ausgerufen.
Es ist die größte Kirche Nizzas, die sich der Attentäter ausgesucht hat, ein imposanter, weißer Bau aus dem späten 19. Jahrhundert, Mitten im Zentrum der Mittelmeerstadt gelegen, eine neogotische Nachahmung von Notre-Dame de Paris, umgeben von Palmen. Die Basilika liegt in einer belebten Fußgängerzone, die Straßenbahnlinie führt direkt an ihr vorbei. Gleich vis-à-vis befinden sich ein bekannter Elektromarkt und eine großer Buch- und Medienladen. Prominenter, zentraler geht es nicht.
Kurz vor neun Uhr ist der Täter in das Gotteshaus gestürmt und hat drei Menschen mit einem Messer ermordet, mehrere andere schwer verletzt. Sein erstes Opfer war eine Siebzigjährige Frau, die er zu enthaupten versucht hat. Offensichtlich ist ihm das nicht komplett gelungen. Sein zweites Opfer ist Vincent L., der Kirchendiener, 55 Jahre, ein Vater von zwei Kindern. Eine dritte Frau, 40 Jahre alt, hat der Attentäter schwer verletzt. Sie habe sich in ein Café gegenüber der Kirche retten können, sei dort aber ihren Verletzungen erlegen.
Ein Augenzeuge soll die städtische Polizei alarmiert haben, die wenige Minuten später vor Ort war und den Täter angeschossen hat. Während Notärzte ihn versorgten, soll er mehrfach „Alluah Akbar“ gerufen haben, berichtet der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi. In Nizza waren 85 Menschen beim Attentat auf der Küstenpromenade am Nationalfeiertag 2016 getötet worden. Der rechtskonservative Estrosi, rief dazu auf, den „Islamofaschismus endgültig auszumerzen“.
Laura und ihre Tochter Séphora sind zur Basilika geeilt, „um Farbe zu bekennen“, wie sie sagt. „Wir sind Christinen, wir sind zur Zielscheibe geworden, aber wir werden uns nicht verstecken, wir zeigen uns.“ Die Französin trägt einen schwarzer Spitzenschleier auf dem Kopf und demonstrativ ihr Kreuz an einer Holzkette über dem Trenchcoat.
Laura kennt Notre-Dame de l’Assomption sehr gut. „Ich hätte um ein Haar heute Morgen in der Kirche sein können“, sagt die Französin, die ihren Nachnamen nicht nennen will, ein Anruf sei dazwischengekommen. Viele Gemeindemitglieder seien statt zur viel besuchten Freitagabendmesse um 18 Uhr zum Gottesdienst am Morgen gegangen, so Laura, einfach weil viele vor der Ausgangssperre, die am Donnerstagabend begann, noch Einkaufe haben machen und Dinge erledigen müssen.
„Der Lehrer Samuel Paty ist getötet worden, weil er Mohamed-Karikaturen gezeigt hat. Diese Menschen hier haben gar nichts getan. Sie sind für ihren Glauben getötet worden“, sagt Laura erschüttert, und wischt sich die Tränen ab, die über ihr Gesicht laufen unter hinter ihrer Maske verschwinden.
Ihre Tochter Séphora, 28, sucht in ihrem Handy verzweifelt nach Fotos vom Kirchendiener. Er sei ein so sportlicher, kräftiger Mann gewesen, sagt sie, ganz bestimmt sei er dazwischen gegangen in der Hoffnung, den Täter überwältigen zu können. Anders könne sie sich das nicht vorstellen. Sie sucht nach den Fotos einer Taufe, aber sie findet sie nicht. „Der Attentäter wollte nicht blind töten“, wiederholt ihre Mutter wieder, „er wollte Christen töten“.
Um 15 Uhr läuten alle Glocken von Frankreichs Kirchen. Es ist das Totengeläut, das erklingt. Aber Laura bedauert, dass die französische Bischofskonferenz sich zu sehr zurückhält, keine deutlicheren Worte findet. Bereits 2016 war Pater Jacques Hamel in seiner Kirche bei Rouen von einem Dschihadisten ermordet worden. „Ich fühle mich visiert, ich habe Angst. Wir sollten uns nichts mehr vormachen, Frankreichs Christen werden attackiert.“
Und dann sagt Laura einen Satz, der vermutlich durch viele Köpfe derzeit geht: „Wir sind Opfer und werden zu Tätern, zu Henkern gemacht.“ Was sie damit meint? Weil sich bislang jeder, der den radikalen Islamismus kritisiert und bekämpft, des Rassismus oder der Islamophobie verdächtig macht.
„Smartphone-Dschihadismus“
Von einem „Smartphone-Dschihadismus“ war zum ersten Mal die Rede, als vor knapp zwei Wochen Samuel Paty in der Nähe seiner Schule in Conflans-Sainte-Honorine ermordet wurde. In den sozialen Netzwerkern war gegen den Geschichtslehrer gehetzt worden, von einem Vater und einem radikalen, den Geheimdiensten seit Jahrzehnten bekannten Prediger. Der Politologe Gilles Kepel spricht von einem „Atmosphären-Dschihadismus“, wo ein kleiner Funken genügt, um einen Low-Cost-Terroristen mit einem Messer, das es überall zu kaufen gibt, zur Tat zu bewegen.
Aufgeheizt ist die Atmosphäre in der Tat. Nicht nur in Frankreich. Mit seinen öffentlichen Verteidigungen der Mohamed-Karikaturen und des Rechts auf Blasphemie hat Macron Frankreich zur Zielscheibe gemacht. Seit der Trauerfeier für den enthaupteten Lehrer im Hof der Pariser Sorbonne, werden in einigen arabischen Ländern Fotos des Präsidenten mit Füßen getreten, die Trikolore demonstrativ verbrannt. Den öffentlichen Angriff des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen Macron darf man als Kriegserklärung werten. „Frankreich ist angegriffen worden“, sagt Macron folgerichtig in Nizza. Ein alter Mann ergänzt: „Wir sind jetzt ein Land, das sich im Krieg befindet.“
Macrons Haltung, Frankreich, seine Werte und die ideale der westlichen Demokratien zu verteidigen, sei eine mutige, aber nicht ungefährliche Haltung, findet der Politologie Asiem El Difraoui. „Macron hat Frankreich damit wieder zum Hochrisikoland gemacht. Das ist langfristig sicher richtig, aber kurzfristig ist das extrem gefährlich und sorgt für eine leicht entflammbare Situation“, sagt der deutsch-ägyptische Islamisten-Spezialist.
Trotz Ausgangssperre wegen der Corona-Epidemie und der höchsten Terrorstufe, die unmittelbar nach dem Attentat von Nizza ausgerufen wurde, rechnen Frankreichs Geheimdienste mit weiteren Attentaten. „Die Ausgangssperre könnte potenziellen Tätern die Möglichkeit geben, ihre Tat genauer vorzubereiten“, so El Difraoui.
Am Vormittag wurde auch in Avignon ein Mann von der Polizei erschossen, der Passanten mit einer Waffe bedroht haben soll. Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund gibt es bislang nicht. Auch ist ein Sicherheitsbeamter vor dem französischen Konsulat in Dschidda in Saudi-Arabien angegriffen und leicht verletzt worden. Auch dort sind die genauen Hintergründe bislang unklar.
„Nizza ist nicht mehr, was es mal war“, sagt Line Rossano, die zum Tatort geeilt ist. „Wir sind entsetzt, angeekelt, traurig“, ergänzt ihr 83-jähriger Mann Antoni Rossano: „Wir haben Angst, schließlich sind wir auch nur Menschen“. Der ehemalige Sänger, ein Tenor, ist sich mit seiner Frau einig: Die Mohamed-Karikaturen seien es nicht wert, den Hass der arabischen Welt auf sich zu ziehen. Frankreichs Präsident gibt nicht nach. Aber die Front in Nizza, sie bröckelt bereits.
unserer Korrespondentin Martina Meister