Herr Selmayr, ist die österreichische Regierung zu dumm, einen korrekten Fixkostenzuschuss-Antrag in Brüssel einzureichen?
MARTIN SELMAYR: Aus Österreich treffen jede Woche in Brüssel sehr gut formulierte Anträge ein, die in enger Zusammenarbeit zwischen nationalen Beamten, oft auch Beamten der Bundesländer, und Kommissionsbeamten zum Erfolg gebracht werden. Das wünschen wir uns in allen Fällen.
Was ist in Wien zwischen Ihnen und dem Finanzminister vorgefallen? Ich bin als Diplomat nicht auf der Ebene des Finanzministers.
Ich bin kein Politiker. Ich bin nur ein Beamter, der versucht, tatkräftig mitzuwirken, dass am Ende eine Lösung zustande kommt. Diese Lösung hat die Europäische Kommission mehrfach angeboten in der Hoffnung, dass es in Zukunft gute Zusammenarbeit geben wird, um österreichische Arbeitsplätze in dieser schweren Krise zu retten.
Ihr Visavis ist aktuell nicht nur Finanzminister, sondern auch türkiser Spitzenkandidat in Wien. Ist das das Problem?
Er war nicht mein Vis-à-vis, sondern jenes der für Wettbewerb zuständigen Exekutiv-Vizepräsidentin Margrethe Vestager, die ich auf ihre Bitte bei diesem Termin vertreten habe. Die Europäische Kommission macht ihren Job ruhig und ohne Emotionen und versucht, zu einem Ergebnis zu kommen. Das ist es, was die Bürger erwarten. Dass das möglich ist, haben wir in den letzten Wochen mehrfach gezeigt. Das geht in 26 EU-Mitgliedsstaaten und in Österreich zum Beispiel auch mit Niederösterreich, wo wir uns innerhalb von drei Tagen einig geworden sind. Manchmal geht es schneller, manchmal etwas langsamer. Aber wir kommen immer zusammen. Das wird am Ende hoffentlich auch mit dem Finanzminister klappen.
In der Öffentlichkeit blieb das Bild des bürokratischen, formalistischen Raumschiffs Brüssel hängen. Bedauern Sie das?
Es ist schade, wenn solche Bilder gezeichnet werden, denn sie treffen die harte, konstruktive und solidarische Arbeit der gesamten Europäischen Union in der Coronakrise nicht. Es war nicht die Kommission, die die Medien zu diesem Termin im Bundesfinanzministerium eingeladen hat. Wir äußern uns zu solchen Verhandlungen gegenüber den Medien nicht, sondern arbeiten an Lösungen.
Sind die Österreicher empfänglicher für solche Negativbilder als andere Länder?
Öffentliche Verwaltung braucht effizient arbeitende Bürokraten – auf nationaler, auf regionaler und auf europäischer Ebene. Es ist Aufgabe der Politiker, dafür zu sorgen, dass die Öffentlichkeit für Zusammenarbeit zwischen den Staaten und der EU-Kommission Verständnis hat, auch wenn es gelegentlich mal in der Sache begründete Meinungsverschiedenheiten gibt. Das würde ich mir wünschen.
Ist Österreich EU-skeptischer als andere Länder?
Das sehe ich nicht so. Ich habe in meinen jetzt etwas mehr als neun Monaten in Österreich den festen Eindruck gewonnen, dass die Österreicherinnen und Österreicher sehr proeuropäisch sind. Das heißt nicht, dass man alles, was aus Brüssel oder Straßburg kommt, für richtig hält, und das ist es ja auch nicht immer und muss dann auch kritisiert werden. Ich sehe es aber als meine Aufgabe, als Vertreter der Kommission in Österreich darauf hinzuweisen, dass EU-Politik nicht auf fernen Planeten namens Brüssel oder Straßburg gemacht wird, sondern dass Europa genauso in Wien oder Graz stattfindet und die österreichische Regierung mitverantwortlich ist für das, was in Europa entschieden wird. Es gibt diesen Gegensatz „Hier wir, dort Europa“ nicht.
Migration, Budget, Corona-Finanzpaket – das Land steht in der EU in viel mehr Dingen quer als früher. Ist das Österreichs neue europapolitische Signatur?
Aus der Sicht aller EU-Länder gibt es das eine oder andere Thema, das auf europäischer Ebene kontrovers diskutiert wird. Es ist legitim, dass die österreichische Regierung österreichische Interessen vertritt. Wichtig ist, dass wir am Ende zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Ich freue mich darüber, dass die österreichische Regierung im Juli dem Kompromiss über das europäische Finanzpaket zugestimmt hat und dazu steht. Und ich bin mir sicher, dass wir uns auch beim Thema Flüchtlingspolitik nach langen Verhandlungen einigen werden. Es hat sich hier schon einiges bewegt. Die erste Reaktion der österreichischen Politik auf das Asylpaket war sehr viel konstruktiver als erwartet.
Meinen Sie das wirklich? Kanzler Kurz hat die Verteilung von Flüchtlingen für gescheitert erklärt, kurz bevor die Kommission ihr Paket präsentierte.
Europa ist ein Vorhaben, das jeden Tag ein Stück weit gebaut werden kann. Als ich für EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu arbeiten begonnen habe, war ich mit ihm in Malta. Er war wie ich entsetzt über die Zustände in diesem kleinen Land, wo Tausende von Flüchtlingen gestrandet waren. Und er fragte mich: Was tut die Kommission eigentlich dagegen? Ich erzählte ihm von einem Pilotprojekt, bei dem Staaten freiwillig Flüchtlinge aufnehmen können. Er fragte mich: Wie viele Flüchtlinge haben die anderen EU-Staaten aus Malta aufgenommen? Ich: In den letzten Jahren genau drei. In Junckers Amtszeit sind dann 100.000 Flüchtlinge aus Griechenland, Malta und Italien übersiedelt, haben anderswo in der EU eine Heimat gefunden. Das mag nicht reichen. Aber ich bin sicher, wenn wir weiterarbeiten, wird Europa keine Festung, sondern ein offener Kontinent sein, wo jene, die einen Asylanspruch haben, Aufnahme finden. Wir können weder Asylverfahren noch Grenzschutz, noch Rückkehrflüge nur den Staaten an den Außengrenzen überlassen. Das ist die Lehre aus der Vergangenheit. Migrationspolitik ist eine gemeinsame Verantwortung. Kein Mitgliedsstaat kann sich von der Solidarität verabschieden. Solidarität gehört zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union dazu.
Wir erleben gerade, dass in der EU die Nachbarn voreinander warnen. Was macht diese Pandemie mit der europäischen Gemeinschaft?
Die Pandemie macht mit der ganzen Welt etwas. Sie zwingt uns, vorsichtiger zu sein. Das ist auch richtig so. Denn in der EU sind bisher mehr als 150.000 Menschen gestorben, weltweit eine Million. In einer ersten Phase haben viele Staaten instinktiv die Grenzen zueinander geschlossen. In der zweiten Phase haben wir Gottseidank keine Grenzschließungen in der EU mehr. Wir sind einen großen Schritt weiter. Jetzt haben wir Reisewarnungen, die meist nicht gegenüber ganzen Staaten gelten, sondern gegenüber Regionen nach objektiven Kriterien, die das Europäische Zentrum für Krankheitsbekämpfung ausgearbeitet hat.
Hat das Warnen voreinander etwas Toxisches im Verhältnis zueinander?
Wenn man es so versteht, dann wäre das richtig. Aber wir müssen hier objektiv nach unseren epidemiologischen Bewertungen vorgehen. Wir müssen jetzt alle etwas Dampf rausnehmen, sachlich miteinander umgehen und vor allem den Menschen auch die Wahrheit sagen. Die nächsten Monate werden schwer werden, weil das Virus noch unter uns ist. Deshalb wird es mehr Restriktionen, mehr Vorsicht brauchen. Das hat aber nichts mit Nationalitäten zu tun oder Staaten. Denn das Virus kennt keine Landesgrenzen.
Halten Sie es für vernünftig, dass das Virus zunächst auf nationaler Ebene bekämpft wird?
Gesundheitsfragen müssen nah am Menschen entschieden werden. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, das ist jetzt der Moment, das alles zu zentralisieren. Wenn man in einer jetzigen Situation aus Brüssel Reisewarnungen aussprechen oder Schulen schließen würde, wäre das sicher der falsche Weg. Vor Ort kann man das viel besser entscheiden. Das ist gelebte Subsidiarität. Man muss sich dann aber auch mit einem gewissen Flickenteppich abfinden, ob in Deutschland, in Österreich oder auch in der EU insgesamt.
Wie erleben Sie den Verlust der Rolle des Vorzugsschülers im Kampf gegen Corona, zu dem sich Österreich stilisiert hat?
Wenn man die EU und ihre Krisen der letzten 50 Jahre verfolgt, weiß man, dass die Rolle des Musterschülers immer ein Verfallsdatum hat. Deshalb halte ich persönlich weder etwas von Musterschülern noch von Nachzüglern. Wir sollten uns alle gemeinsam anstrengen, die Folgen der Pandemie zu begrenzen und den Ländern zu helfen, die vorübergehend dafür etwas länger brauchen oder mehr Schwierigkeiten haben. Diese Krise ist von niemandem in Europa verschuldet. Sie kann jeden treffen. Wir sollten deshalb auch nicht auf den Nachbarn herabschauen, sondern überlegen, was wir selber dazu beitragen können, diese Krise überall so schnell wie möglich zu überwinden.