Libanons christlicher Präsident Michel Aoun bemühte letzte Woche sogar biblische Metaphern, um die Gefahren für sein Land zu beschwören. Man werde in der Hölle enden, wenn nicht noch ein Wunder geschehe, sagte er im Blick auf die festgefahrenen Regierungsgespräche.
Seit dem Wochenende steht der Schlund der Hölle nun offen. Der designierte Premierminister Mustapha Adib, vor seiner Nominierung libanesischer Botschafter in Deutschland, warf nun die Flinte ins Korn. „Ich entschuldige mich aufrichtig bei dem libanesischen Volk, dass gelitten hat und leidet“, erklärte der 48-Jährige, der vier Wochen lang vergeblich versuchte, ein parteiübergreifendes Reform-Kabinett auf die Beine zu stellen und damit den Staatszerfall zu stoppen.
Auslöser seines Scheiterns sind die beiden schiitischen Parteien Amal und Hisbollah, die sich offenbar auf Geheiß des Iran quer legten. Sie pochten auf das Finanzministerium, was sie seit zehn Jahren kontrollieren und was in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise eine Schlüsselrolle spielt. Für Teheran ist der Libanon sowieso nur ein weiterer Schauplatz im regionalen Machtkampf mit Washington, das als Gegenleistung für westliche Milliarden-Hilfen den Einfluss der Hisbollah gekappt sehen will. Erst kürzlich belegte das Weiße Haus demonstrativ zwei Hisbollah-nahe Ex-Minister mit Sanktionen, darunter einen ehemaligen Finanzminister.
„Das Kapitel Mustapha Adib ist geschlossen, doch was nun?“ titelte die Zeitung „L'Orient-Le Jour“ im Blick auf die beispiellose Multikrise des Landes. Am 4. August zerstörte eine Mega-Explosion den Hafen und das Zentrum Beiruts. 212 Menschen starben, 6500 wurden verletzt und 300.000 Bewohner obdachlos. Seit Oktober 2019 fordern Massenproteste das Ende des religiös-konfessionellen Proporzsystems. Trotzdem sträubt sich die politische Kaste gegen umwälzende Reformen, die Wirtschaft und Gesellschaft vor einem Zusammenbruch bewahren könnten.
Gespräche über einen Großkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) für das Bankensystem liegen seit Monaten auf Eis, auch weil sich die libanesische Zentralbank gegen eine internationale Buchprüfung sträubt. Westliche Milliardenhilfen für den Wiederaufbau von Beirut bleiben blockiert, obwohl die libanesische Hauptstadt vor dem herannahenden Herbst und Winter mit ihren Regenstürmen jeden Euro dringend bräuchte. Die Weltbank kalkuliert die Schäden an Hafen und Gebäuden auf 3,8 bis 4,6 Milliarden Dollar.
Veruntreuung
Von den Bankkonten der Sparer wurden mindestens 60 Milliarden Dollar veruntreut. Die Staatsverschuldung gehört mit 85 bis 110 Milliarden Dollar zu der höchsten der Welt. Doch ohne grundlegende Reformen sind die ausländischen Geldgeber nicht bereit, weiteren Gelder locker zu machen – abgesehen von einer Mitte August zugesagten Sofort-Nothilfe von 250 Millionen Euro.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat am Sonntagabend in einer Pressekonferenz der Hisbollah schwere Vorwürfe gemacht. „Die Hisbollah kann nicht gleichzeitig eine Armee im Krieg mit Israel sein, eine hemmungslose Miliz gegen Zivilisten in Syrien und eine respektierte Partei im Libanon“, sagte er.
Als einziger europäischer Regierungschef besuchte er bereits zwei Mal das zerstörte Beirut. Anfang September nahm er der politischen Elite das Versprechen ab, innerhalb von 14 Tagen ein neues Kabinett aus parteiübergreifenden Fachleuten zu bilden. Aus seiner Umgebung hieß es, das Scheitern der Regierungsbildung sei „ein kollektiver Betrug der libanesischen Parteien“, trotzdem werde Frankreich den Libanon nicht fallen lassen. Der Koordinator der Vereinten Nationen für den Libanon, Jan Kubis, geißelte die politische Klasse als absolut verantwortungslos. „Wann werden Sie endlich aufhören mit den üblichen Spielchen, wann werden Sie endlich auf die Schreie und Bedürfnisse der Bevölkerung hören und die Zukunft des Libanon zur Priorität machen?“ fragte er auf Twitter.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen