Madrid, der schlimmste spanische und auch europäische Viren-Brennpunkt, steuert erneut auf einen Corona-Albtraum zu: mit vollen Intensivstationen und langen Warteschlagen vor den Gesundheitszentren. Mit Feldlazaretten, die jetzt wieder vom Militär aufgebaut werden. Und mit verzweifelten Hilferufen von Ärzten und Krankenschwestern, die bis zur Erschöpfung arbeiten und vor dem Kollaps des Gesundheitssystems warnen.
„Wir fühlen uns vom Staat verlassen“, sagt Sergio Fernández, Krankenpfleger und Gewerkschaftsrepräsentant im Hospital Infanta Leonor im Stadtteil Vallecas. Die Mitarbeiter seien angesichts des großen Personalmangels „am Limit“. Die Lage in dem Krankenhaus im Madrider Süden, aus dessen Einzugsgebiet die höchsten Ansteckungsraten ganz Spaniens gemeldet werden, sei kritisch. Auf der Intensivstation gebe es schon jetzt keinen Platz mehr.
Betten fast ausgelastet
Nicht viel besser sieht es in etlichen anderen Hospitälern der Stadt aus: Ein Drittel aller Madrider Krankenhäuser sei bereits nahezu bis auf das letzte Bett belegt, meldet die Online-Zeitung „El Diario“. Madrids Regionalregierung rief wegen der sich täglich verschärfenden Notlage nun Spaniens Armee zu Hilfe. Die Soldaten sollen Behandlungszelte aufbauen, bei der Desinfektion von Gebäuden helfen und auch dem medizinischen Personal unter die Arme greifen.
Die Entwicklung in der spanischen Hauptstadt weckt Erinnerungen an jene traumatischen Bilder, die im März und April, auf dem Höhepunkt der ersten großen Viruswelle, um die Welt gingen. Damals mussten Covid-19-Patienten mangels Betten auf dem Fußboden mancher Krankenhausflure gelagert werden. In Sporthallen stapelten sich Särge von Corona-Opfern.
Auf dem Weg zu einer Lage wie im Frühjahr
Noch ist die Lage in Spanien nicht so dramatisch wie im Frühjahr. Damals starben an manchen Tagen innerhalb von 24 Stunden landesweit mehr als 900 Menschen im Zusammenhang mit dem Virus Sars-Cov-2. Aber angesichts des steilen Anstiegs von Infektionen und Todeszahlen schließen Experten nicht mehr aus, dass das Land in diesem Herbst eine ähnliche Tragödie erleben könnte.
Aus den aktuellen Zahlen lässt sich wenig Hoffnung auf Besserung ableiten: Rund 1450 Corona-Patienten kämpfen momentan auf den Intensivstationen um ihr Leben – Tendenz steigend. Die spanischen Gesundheitsbehörden melden täglich schon wieder 100-200 Corona-Tote. Am Dienstag dieser Woche waren es sogar 241 Todesopfer an einem Tag. Etwa ein Drittel aller Verstorbenen werden in Madrid registriert.
Drastische Ausgangsbeschränkungen
In etlichen spanischen Städten und Gemeinden gelten wegen der hohen Infektionsraten erneut drastische Ausgangsbeschränkungen. Allein im Großraum Madrid wurden bisher 37 südliche Stadtteile und Vororte abgesperrt, in denen fast eine Million Menschen leben. Nur zum Arbeiten dürfen die Betroffenen ihre Wohngebiete verlassen.
Angesichts der ungebremsten Ausbreitung des Virus sollen in den kommenden Tagen weitere Madrider Wohnbezirke isoliert werden. Auch ein kompletter Lockdown der ganzen Hauptstadtregion, in der insgesamt 6,7 Millionen Menschen leben, ist nicht mehr ausgeschlossen.
„Die Lage ist besorgniserregend“, sagte Spaniens Gesundheitsminister Salvador Illa. Er forderte alle Bewohner Madrids auf, möglichst zu Hause zu bleiben. Regierungschef Pedro Sánchez räumte ein: „Die zweite Welle ist da.“ Er stimmte die Bevölkerung der Metropole darauf ein, dass wieder „sehr harte Wochen“ bevorstehen.
In keinem anderen Land ist Risikowert höher
In der Hauptstadtregion kletterte die 7-Tage-Inzidenz am Freitag auf 308 Infektionsfälle pro 100.000 Einwohner. In den südlichen Stadtteilen, in denen viele ärmere Familien und Einwanderer auf engem Raum zusammenleben, liegt dieser Referenzwert sogar bei über 600. Spanienweit wurde die wöchentliche Fallhäufigkeit zuletzt mit 125 angegeben. In keinem anderen europäischen Land ist dieser Risikowert derzeit höher. In Deutschland lag die 7-Tage-Inzidenz am Donnerstag bei etwa 13.
Jeden Tag kommen in Spanien 10.000 bis 11.000 neue Infektionsfälle hinzu. Am Freitag wurde ein weiterer trauriger Rekord gemeldet: Seit Beginn der Epidemie im Frühjahr wurden in dem iberischen Land bereits mehr als 700.000 durch Tests bestätigte Ansteckungen registriert. Das ist mehr als doppelt so viel wie in Deutschland. Und deutlich mehr als in anderen stark betroffenen Ländern wie etwa Frankreich, Großbritannien oder Italien.
Schwere Fehler vorgeworfen
Derweil mehren sich die Stimmen von spanischen Epidemiologen, welche den politisch Verantwortlichen schwere Fehler vorwerfen. So beklagen die beiden anerkannten Virenforscher Miguel Hernán und Santiago Moreno erhebliche „Inkompetenz“ der Politiker. Vor allem, weil bei der Anti-Corona-Politik oftmals wissenschaftliche Kriterien ignoriert würden.
Zudem sei das Gesundheitssystem nicht, wie nach der ersten Corona-Welle versprochen, verstärkt worden: Dem Land mangele es immer noch an Testkapazitäten. Aber auch an Ärzten, Pflegern und Spezialisten, um Kontaktpersonen von Infizierten aufzuspüren und um die notwendigen Quarantänen zu überwachen, kritisiert Hernán. „Jetzt bezahlen wir, dass wir nicht rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen ergriffen haben“, urteilt sein Kollege Moreno.
Schulkrise in Spanien
Spaniens sich verschärfende Corona-Krise macht übrigens auch vor den Schulen nicht halt: Zwei Wochen nach Schulstart befinden sich 2800 Schulklassen mit insgesamt etwa 40.000 Schülern wegen Infektionsfällen in Quarantäne. Allein in Madrid sind 832 Klassen komplett nach Hause geschickt worden, weil sich Schüler oder Lehrer angesteckt hatten.
Betroffen war übrigens auch Kronprinzessin Leonor, in deren Madrider Privatschule es ebenfalls Corona-Alarm gab. Doch im Palast konnte man inzwischen aufatmen: Ein Corona-Test verlief bei der 14-jährigen Tochter von König Felipe negativ.