Deutschlands Innenminister Horst Seehofer (CSU) übt scharfe Kritik an Österreichs Regierung in der europäischen Flüchtlingsfrage. "Ich bin von der Haltung unserer österreichischen Nachbarn enttäuscht, sich an der Aufnahme einer überschaubaren Zahl von Schutzbedürftigen aus Griechenland nicht zu beteiligen", sagt Seehofer laut Vorabmeldung in der aktuellen Ausgabe des "Spiegel".

"Solidarisch zeigen"

"In einer solchen Situation muss Europa Geschlossenheit zeigen. Wenn wir nichts tun, stärken wir die politischen Ränder." Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria hatte die deutsche Bundesregierung entschieden, zusätzlich 408 Familien von den griechischen Inseln aufzunehmen, die bereits als Flüchtlinge anerkannt sind. Insgesamt geht es um 1553 Menschen. Auf Dauer müssten sich alle EU-Staaten an der Bewältigung der Flüchtlingsfrage beteiligen, sagt Seehofer: "Wer sich in der Migrationspolitik nicht solidarisch zeigt, kann auch an anderer Stelle keinen Anspruch auf solidarische Leistungen erheben."

Unterdessen hält auch in Wien der Protest gegen diesen Kurs an. Über dem Eingang des Bundeskanzleramts, dessen Fassade gerade saniert wird, hängten Unbekannte ein großes Plakat auf: "Hier regiert der Kanzler der Schande. Moria evakuieren", stand darauf zu lesen.

Das Plakat selbst wurde nach kurzer Zeit wieder entfernt. Allerdings stand die Frage im Raum, wie es angesichts der Sicherheitsmaßnahmen gelingen konnte, es aufzuhängen.

Die ÖVP unter Bundeskanzler Kurz lehnt dies ab. Sie will nach eigenen Angaben für rasche Unterstützung vor Ort zu sorgen. Die Aufnahme von Flüchtlinge können neue Anreize für Schlepper schaffen.

Ambivalent

Wenn  Kurz  heute und morgen die Schweiz besucht, eilt ihm dort der Ruf voraus, ein "Politiker der Next Generation" zu sein. Das erklärte der renommierte Schweizer Politologe Claude Longchamp im Vorfeld des Trips im APA-Interview. Doch werde seine Politik auch in Schweiz oft als ambivalent angesehen und gefragt, ob diese noch als "christdemokratisch" zu bewerten sei.

Zwar sei Kurz im Nachbarland kein dominantes Thema, doch habe seine steile Karriere in jungen Jahren doch auch für Aufsehen gesorgt, meinte der bekannte Meinungsforscher und frühere Leiter des Instituts "gfs Bern" (Gesellschaft für Sozialforschung). "Man hat es zweifelsfrei so wahrgenommen, dass er auf spektakuläre Art und Weise die ÖVP übernommen und die Wahlen gewonnen hat. Das war auch ein Thema hier", analysierte Longchamp.

Vertritt "Next Generation"

In der Schweiz werde bemerkt, dass der 34-jährige Bundeskanzler europapolitisch die "Next Generation" vertrete, die "den Fall der Berliner Mauer" nicht mehr bewusst miterlebt habe, so der Doyen der Schweizer Politik- und Meinungsforschung gegenüber der Austria Presse Agentur. "Und man hat gesehen, dass er sich relativ schnell zu einem moderaten Kritiker von Frau Merkel entwickelt hat."

Merkel hat höhere Sympathiewerte

Allerdings habe die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Eidgenossenschaft "die viel höheren Sympathiewerte", merkte Longchamp an. "Frau Merkel gilt hier als ein zuverlässiger Garant in der Zusammenarbeit mit Europa." Daher werde schon mit Ambivalenz verfolgt, dass Kurz sich beispielsweise nicht eindeutig von Ungarns nationalkonservativem Premier Viktor Orban abgrenze. "Orban gilt eigentlich nicht wirklich als vertrauenswürdiger Politiker - mit Ausnahme einmal in rechtsnationalen Kreisen - in der Schweiz."

Migrationsfrage

Unterschiedlich sei auch die Rezeption der von Kurz verfolgten Politik in der Migrations- und Flüchtlingsfrage. "Ich denke, das ist bei ihm auch ein kritischer Punkt. Manchmal höre ich die Frage: 'Ist denn das überhaupt noch Christdemokratie? Ist das noch eine christdemokratische Volkspartei?'". Andererseits gebe es gerade bei diesen Themen auch großes Verständnis. "Die Schweizer sind ja froh, dass die Flüchtlinge nicht in die Schweiz kommen. Bei der Flüchtlingsfrage ist es so, dass viele - wenn auch nicht immer öffentlich - finden, er hat das Richtige gemacht. Und er lässt sich nicht vorführen, weder von der EU noch von der Türkei." Auch das komme bei vielen Schweizern gut an.

Pure Wille zur Macht?

Mitunter werde aber auch die Frage gestellt, ob Kurz "nicht einfach der pure Wille zur Macht" antreibe, ergänzte der Politologe. Auch die Art und Weise, wie er in Österreich die Volkspartei übernommen und zur "neuen ÖVP" umgestaltet habe, sei in Politiker- und Medienkreisen der Schweiz eher auf Verwunderung gestoßen. "Das Modell, das er in Österreich erfolgreich praktiziert hat - eine Partei mehr oder weniger zu überrumpeln, für sich zu pachten und dann die Wahlen zu gewinnen: Niemand glaubt, dass das in der Schweiz möglich ist."

In Bern habe man den Eindruck gehabt, dass dieser Prozess in Wien in "einigen Wochen" über die Bühne gegangen sei. Bei der "Christlichdemokratischen Volkspartei der Schweiz" (CVP) sei so ein Umsturz undenkbar, seien sich Politiker und Beobachter einig gewesen. Parteipräsident Gerhard Pfister habe etwa Folgendes gesagt: "So ein Prozess würde in der CVP bis 2025 gehen."

Schwer nachvollziehbar

Zudem sei es für die Schweizer Innenpolitik schwer nachvollziehbar, "wie locker Kurz die Regierungszusammensetzung gewechselt hat". Der Wechsel von der FPÖ zu den Grünen habe vielerorts schon für Verwunderung gesorgt. "Wir Schweizer sind es ja gewohnt, dass man pragmatisch ist und mit vielen zusammenarbeiten will." Aber die SVP und die Grünen, das passe in der Schweiz "gar nicht" zusammen.

Die rechtspopulistische SVP (Schweizerische Volkspartei) habe ja auch die sogenannte Begrenzungsinitiative lanciert, mit der die Personenfreizügigkeit mit der EU aufgekündigt werden soll, erinnerte Longchamp. Interessant sei, dass ausgerechnet deren Partner, nämlich die "Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS)", mit Sebastian Kurz vor der Volksabstimmung vom 27. September in ihrer Anti-EU-Kampagne Stimmung mache. Auf Plakaten ist sein Konterfei zu sehen. Darunter wird der ÖVP-Politiker mit einem Auszug aus einem Zeitungsinterview zitiert: "Die Schweiz ist unter den Top-Staaten, auch weil sie nicht an EU-Regeln gebunden und finanzstark ist."

Auftritt im Kleinwalsertal

Einen positiven Eindruck hätten die Schweizer freilich bezüglich des Managements der türkis-grünen Regierung in der Coronvirus-Krise gewonnen, resümierte der Meinungsforscher. Allerdings seien die Bilder vom Besuch des Bundeskanzlers im Kleinwalsertal im Mai inmitten einer Menschenmenge mit Skepsis aufgenommen worden. Dort habe Kurz für viele doch folgenden Eindruck vermittelt: "So, jetzt ist es fertig. Jetzt können wir wieder." Longchamp: "Das hat man gesehen und nicht verstanden."

Die Covid-19-Pandemie wird auch ein Hauptthema sein, wenn Bundeskanzler Kurz ÖVP am heutigen Freitag im Rahmen eines bilateralen Besuchs von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga auf dem Landgut Lohn bei Bern empfangen wird. In Folge will sich Kurz in der Schweiz auch bei CEOs von führenden Pharmakonzernen über den Stand der Forschung bei Anti-Corona-Medikamenten und -Impfstoffen informieren.