Die Präsidentschaftswahl am 4. November wird wahrscheinlich zu gewalttätigen Ausschreitungen und einer politischen Krise in den USA führen. So die besorgniserregende Schlussfolgerung einer überparteilichen Gruppe, bestehend aus mehr als 100 ehemaligen amerikanischen politischen Entscheidungsträgern, Beamten und Politikexperten, die in diesem Sommer vier mögliche Szenarien zum Ausgang der Wahl in sogenannten Planspielen simulierten. Nur ein einziges Szenario – ein überwältigender Sieg des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden – resultierte in einem wie bisher gewohnten friedlichen Machtwechsel.
Alle anderen drei beinhalten politische Gewalt auf den Straßen, die über Wochen und Monate anhalten könnten und das Land politisch lähmen würden.
Einen Vorgeschmack auf die prognostizierten Straßenschlachten liefern die teils gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Polizei und linken und rechten Aktivisten in den vergangenen Monaten nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd in Polizeigewahrsam im Mai. Obwohl laut einer im September veröffentlichten NGO-Studie 93 Prozent der 7750 Protestmärsche gegen Polizeigewalt und für „Black Lives Matter“ zwischen Mai und August friedlich verliefen, scheint die Gewaltbereitschaft beider Seiten merklich zu steigen. Die bislang letzten traurigen Höhepunkte: Zwei Männer wurden Ende vergangenen Monats von einem 17-jährigen Schützen während Ausschreitungen in der Kleinstadt Kenosha im Bundesstaat Wisconsin erschossen und in Portland, Oregon, erschoss ein Antifa-Aktivist einen Unterstützer Trumps auf offener Straße.
Übertrieben
Erstmalig in der jüngeren US-amerikanischen Geschichte wird auch debattiert, auf welche Seite sich die Streitkräfte bei einer verfassungsrechtlichen Krise, ausgelöst durch einen knappen Wahlausgang, schlagen würden. Anzeichen, dass sich das Militär in die Politik einmischen würde, gibt es freilich keine. Die Furcht vor „südamerikanischen“ Verhältnissen ist übertrieben. Kann den USA dennoch eine ausufernde politische Gewaltspirale in den kommenden Wochen und Monaten drohen?
Unmittelbar geht die Gefahr vor allem von bewaffneten rechten Gruppierungen, die sich oft selbst als Milizen bezeichnen, aus. Der Schütze in Kenosha zum Beispiel sah sich selbst als Teil einer Bürgermiliz, die mit Waffengewalt Plünderungen und Zerstörungen in der Stadt verhindern sollte.
Hunderte bewaffnete Gruppe
Es gibt Hunderte solcher Gruppen in den USA, die vor allem in den 1990er-Jahren als Reaktion auf mehrere äußerst blutige Polizeieinsätze von Bundesbehörden entstanden. Grob zusammengefasst sind die Ziele der Milizen: die Übermacht der Bundesregierung in Washington brechen und den 2. Zusatzartikel der Verfassung, der das Recht auf Besitz und Tragen von Waffen garantiert, erhalten. Viele dieser Milizen – verstärkt durch die sozialen Medien – sind anfällig für Verschwörungstheorien und so gut wie alle unterstützen Trump. Sollte der amtierende Präsident die Wahl im November gegen Biden verlieren oder deren Ergebnis infrage stellen, würde die Gewaltbereitschaft dieser Gruppierungen mit Sicherheit steigen.
Unabhängigkeitskrieg
Abgesehen von den unmittelbaren Ursachen für etwaige gewaltsame Zusammenstöße ist politische Gewalt – ob auf der Straße oder dem Schlachtfeld – immer schon Teil der amerikanischen politischen Kultur gewesen. Man darf nicht vergessen: Das Land selbst entstand nach einem blutigen Unabhängigkeitskrieg, in dem amerikanische Loyalisten (der britischen Krone) gegen Revolutionäre kämpften.
Physische Gewalt war viele Jahrzehnte Teil der Politik. Selbst einer der Gründerväter der USA, Alexander Hamilton, wurde in einem Duell, ausgelöst durch innenpolitischen Differenzen, getötet. Auch im US-Kongress kam es immer wieder zu Handgreiflichkeiten und Schlägereien. Die bekannteste Auseinandersetzung fand 1856 im Senat statt, wo ein Abgeordneter einen Kollegen der anderen Partei nach einer Debatte über die Abschaffung der Sklaverei mit einem Spazierstock fast zu Tode prügelte. Das Ereignis gilt als Vorbote des Bürgerkriegs in den 1860er-Jahren, der über 600.000 Amerikaner das Leben kosten sollte.
Vier US-Präsidenten im Amts ermordet
Auch muss man daran erinnern, dass seit 1865 vier US-amerikanische Präsidenten im Amt ermordet wurden. Das letzte Opfer war John F. Kennedy, der 1963 erschossen wurde. Tatsächlich erreichte die politische Gewalt in den 1960ern ihren vorläufigen Höhepunkt. Martin Luther King und Robert F. Kennedy fielen Attentaten zum Opfer, in 120 Städten legten Unruhen teilweise ganze Viertel in Schutt und Asche. Der Krieg in Vietnam radikalisierte die Bevölkerung wie kein anderes Ereignis im 20. Jahrhundert. Am Parteitag der Demokraten in Chicago 1968 prügelten Polizisten sinnentleert auf friedliche Demonstranten ein.
Nixon schürte bewusste Ängste vor schwarzem Mob
Politiker versuchten aus der Polarisierung Kapital zu schlagen. Die allmähliche Abschaffung der Rassentrennung in den Südstaaten wurde zum Beispiel von Richard Nixon als Vorwand verwendet, um Urängste von schwarzen Mobs und schwarzer Kriminalität in der weißen Bevölkerung zu schüren.
Erst ein Jahrzehnt später, Anfang der 1980er-Jahre, schien sich das Land von diesen inneren Streitigkeiten langsam zu erholen. Inwiefern sich die Geschichte in den nächsten Monaten wiederholen wird, bleibt offen. Dass eine politische Krise und Gewalt auf den Straßen ernsthaft von den Eliten des Landes debattiert wird, zeugt jedoch klar davon, wie weit die politische Polarisierung in den USA fortschreitet.