Nach der Festnahme der weißrussischen Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa gibt es widersprüchliche Angaben aus Kiew und Minsk. Wo sich Kolesnikowa aufhält, ist weiter unklar. Kolesnikowa wurde nach weißrussischen Behördenangaben an der Grenze zur Ukraine festgenommen. Die Agentur Interfax Ukraine meldete unter Berufung auf die Regierung in Kiew, Kolesnikowa habe ihren Pass zerrissen, um eine Abschiebung zu verhindern.
Der Vize-Innenminister der Ukraine, Anton Geraschtschenko, schrieb auf Facebook, Kolesnikowa habe eine "gewaltsame Ausweisung aus ihrer Heimat" verhindert. "Maria Kolesnikowa konnte nicht aus Belarus abgeschoben werden, weil diese tapfere Frau dafür gesorgt hat, dass sie nicht über die Grenze gebracht werden konnte." Sie bleibe auf dem Staatsgebiet von Weißrussland. "Alexander Lukaschenko ist persönlich verantwortlich für ihr Leben und ihre Gesundheit", betonte der Minister.
Aufenthaltsort unklar
Kolesnikowa war seit Montag unauffindbar. Medien hatten berichtet, sie sei im Zentrum von Minsk von maskierten Männern verschleppt worden. Nach Angaben des Koordinierungsrates der weißrussischen Opposition wurde sie zusammen mit einem Sprecher und einem Mitarbeiter "von Unbekannten im Zentrum von Minsk entführt".
Kolesnikowa hat sich mit zwei anderen Regierungskritikerinnen prominent gegen Präsident Alexander Lukaschenko gestellt. Von den drei Politikerinnen war zuletzt nur noch sie in Belarus.Mitstreiterin Swetlana Tichanowskaja reiste nach Litauen aus. Von dort aus bekräftigte sie am Dienstag ihre Kritik an Lukaschenko.
Misk und Kiew widersprechen sich
Das weißrussische Staatsfernsehen berichtete, Kolesnikowa habe in den frühen Morgenstunden versucht, die Grenze zur Ukraine in einem Auto zu überqueren. Sie sei aus dem Fahrzeug entfernt worden. Zwei Verbündeten Kolesnikowas sei es gelungen, Belarus zu verlassen.
Der weißrussische Grenzschutzvertreter bestätigte, dass sich die beiden Oppositionspolitiker Anton Rodnenkow und Iwan Krawtsow in der Ukraine aufhielten. "Kolesnikowa ist im Zusammenhang mit den Umständen festgenommen worden, unter denen (die Gruppe) das Territorium von Belarus verlassen hat." "Ich kann nicht genau sagen, wo sie ist, aber sie wurde festgenommen", sagte Anton Bytschowski vom weißrussischen Grenzschutz am Dienstag per Telefon der Nachrichtenagentur Reuters. Die beiden Politiker waren ungefähr zur selben Zeit verschwunden wie Kolesnikowa.
Schlüsselrolle bei den Protesten
Kolesnikowa hat eine Schlüsselrolle bei den jüngsten Protesten gegen den Ausgang der Wahl vom 9. August. Ihre beiden Mitstreiterinnen haben das Land inzwischen verlassen: Mitte August reiste die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja nach Litauen, ihre Vertraute Olga Kowalkowa Anfang September nach Polen.
Trotz der Ausreise prominenter Oppositioneller sowie Hunderten Festnahmen in der Protestbewegung lässt in Belarus die öffentliche Kritik an Lukaschenko nicht nach. Der 66-Jährige regiert die Ex-Sowjetrepublik seit 1994 mit harter Hand. Bei der jüngsten Präsidentenwahl erklärte sich Lukaschenko zum klaren Sieger, die Opposition wirft ihm Wahlbetrug vor. Seitdem kommt es immer wieder zu Großdemonstrationen. Die Proteste lässt Lukaschenko auch gewaltsam niederschlagen. Russlands Präsident Wladimir Putin sicherte ihm militärische Unterstützung zu, sollte sich die Lage nicht beruhigen.
In der Krise hatte Lukaschenko wieder verstärkt Kontakt zu Putin gesucht, nachdem sich die Beziehungen zwischen den beiden Politikern zuvor abgekühlt hatte. Putin warb unlängst für einen seit längerem existierenden Plan, der engere Verbindungen zwischen Belarus und Russland vorsieht. Lukaschenko lehnte dieses Vorhaben zunächst ab und warf Russland vor, sich Belarus einverleiben zu wollen.
Warnungen aus dem Baltikum
Das an Belarus grenzende NATO- und EU-Land Litauen - ebenfalls eine ehemalige Sowjetrepublik - warnte am Montag vor einem engen Schulterschluss von Belarus mit Russland. Lukaschenko sei kurz davor, die Unabhängigkeit seines Landes aufzugeben und eine Vereinbarung über ein stärkeres Bündnis mit Russland zu unterzeichnen, sagte Außenminister Linas Linkevicius.
Die weißrussische Oppositionsführerin Tichanowskaja erklärte am Dienstag, jeder von Lukaschenko geschlossene Vertrag werde von einer demokratisch gewählten weißrussischen Regierung gekippt. "Lukaschenko hat keinerlei Legitimität als Präsident unsere Landes. Er repräsentiert Belarus nicht mehr."
Sitzung des Europarates
Bei einer Sitzung des Europarats kam neben Tichanowskaja mit Andrej Sawinych auch ein offizieller Vertreter aus Minsk zu Wort. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des weißrussischen Parlaments warf der Opposition vor, es im Präsidentschaftswahlkampf darauf angelegt zu haben, "politische und gesellschaftliche Spannungen zu schüren". Die Proteste seien zudem in den sozialen Netzwerken und "vom Ausland her" gesteuert worden. Auf die Gewalt der Protestierenden hätten die Sicherheitskräfte reagiert, wie Sicherheitskräfte in westlichen Ländern auch reagiert hätten, sagte Sawinych weiter. "Wir müssen die friedlichen Bevölkerung schützen vor der Gewalt." Politische Veränderung in Belarus könne "nicht auf Druck der Straße oder von externen Akteuren" eingeleitet werden. Die Vorwürfe der Wahlfälschung wies er zurück.
Mitten in der schweren politischen Krise startet Weißrussland einem Medienbericht zufolge eine gemeinsame Militärübung mit Russland und Serbien. Für das Manöver würden russische und serbische Kräfte vom 10. bis 15. September ins Land kommen, berichtete die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Minsk. Litauen hatte erst vergangene Woche ein jährliches Manöver mit Hunderten Soldaten unter anderem aus den USA, Frankreich, Italien, Deutschland, Polen vom 14. bis 25. September angekündigt.