Am Tag nach der Bestätigung aus Berlin, dass Alexej Nawalny, Russlands bekanntester und wichtigster Oppositioneller, mit dem Nervengift Nowitschok aus dem Verkehr gezogen wurde, reagiert der Kreml, wie man es gewohnt ist: leugnen, mauern, Tatsachen verdrehen - bei dem lebensbedrohenden Anschlag auf Nawalny handle es sich um eine Verschwörung des Westens, behaupten Staatsmedien.

Dieser Kampfstoff wird nicht in einer Hinterhofgarage hergestellt. Allein die Tatsache, dass es sich um Nowitschok handelt, weist daraufhin, dass staatliche Strukturen verwickelt sind. Das bedeutet jetzt nicht zwingend, dass Putin selbst Auftraggeber der Tat ist. Hat er das Verbrechen geduldet? Ermutigt? Oder geschah die Tat wirklich hinter seinem Rücken? Hat das russische Militär die Kontrolle über seine gefährlichen Kampfstoffe verloren? Alles davon wäre entsetzlich. Dass die weltweit bekannte, zentrale Figur der Opposition ohne Wissen des Staatschefs aus dem Weg geräumt wird, ist kaum vorstellbar - und wenn doch, bedeutet das, dass sich rund um Putin Machtzentren gebildet haben, vor denen er sich eher fürchten muss als vor Demonstranten auf den Straßen.

Die Durchführung der Tat - dass Nawalny den Anschlag letztlich überlebte, dass er trotz der Behauptung russischer Ärzte, er sei gar nicht vergiftet, noch nach Deutschland ausgeflogen werden durfte - obwohl man wissen musste, dass Berlin in der Lage sein würde, das Gift nachzuweisen - deutet darauf hin, dass hier (zum Glück für Nawalny) einiges nicht ganz rund gelaufen ist.

Immer wieder Polit-Morde

Was immer Putins Rolle in dem Fall sein mag: Hätte er Einwände gehabt, Kritiker gewaltsam zum Verstummen zu bringen, hätte er schon längst einschreiten müssen: Polonium gegen den Ex-Geheimdienstler Litwinenko, Nowitschok gegen Skripal, Schussattentate auf den Oppositionellen Nemzow und die Journalistin Anna Politkowskaja: Ganz offensichtlich wollte oder konnte Putin gegen Mord als Mittel der Macht in Russland nichts unternehmen. In jedem Fall trägt er damit zentrale Verantwortung und hat Blut an seinen Händen.

Lebensgefährlich

Zugleich zeigt der Fall Nawalny: Die Fassade von Demokratie, die Putin bisher versuchte, aufrechtzuerhalten, ist endgültig zusammengebrochen. Opposition ist potenziell tödlich - und alle dürfen es wissen. Die Mühen, sich seine ohnehin beschlossene Amtszeitverlängerung durch ein Referendum formschön vom Volk absegnen zu lassen, hätte sich Putin sparen können.

Eiszeit

Für Europa bedeutet das: Mit diesem Russland ist kein Staat zu machen. Als Nachbar im Osten, mit dem kulturell und wirtschaftlich enge Verknüpfungen bestehen, müsste es ein Partner sein - und doch hält sich das Regime in dem Riesenreich unter Putin nicht einmal an die Grundregeln: Man bringt seine Bürger nicht um. Eine Eiszeit in den Beziehungen ist zu erwarten - obwohl sie keinem dient. Ein Dilemma, das sich auf absehbare Zeit kaum wird lösen lassen.