Der Mann an der Stadionkasse blickt auf, als habe er nicht richtig gehört. „Maske?“ Dann – nach einer Denkpause: „Nein ich glaube nicht, dass es Pflicht ist. Es könnte aber empfohlen sein. Genießen Sie das Spiel.“ Debrecen, Spitzenreiter der 2. Fußballliga n Ungarn, ist zu Gast beim Budapester Klub Vasas, Siebentplatzierter in der Tabelle. Ein wichtiges Spiel mit mehr Zuschauern als viele Erstligaspiele in Ungarn: 3497 sind im Stadion. Zum Vergleich: 4445 Zuschauer wollten das Auftaktspiel der ersten Liga am 14. August zwischen MTK und Ferencvários sehen.
In den Fankurven drängen sich Männer dicht an dicht, hunderte tätowierte Arme recken Fäuste gen Himmel, bierselige Sprechchöre beschwören den Sieg. Die Debrecen-Fans sind mit einer großen Trommel angereist. Im ganzen Stadion scheint es nur zwei Zuschauer mit Gesichtsmasken zu geben. Der Verfasser dieser Zeilen, und eine ältere Dame. Die meisten haben eine Maske dabei, nur nicht aufgesetzt: All jene, die mit Bus und Straßenbahn angereist sind. Da ist es Pflicht.
Geht das gut?
So viele Menschen auf einem Fleck – kann das gut gehen in den Zeiten des Coronavirus? Ungarn ist zwar nach wie vor eines der Länder mit den geringsten Covid-19-Fällen in Europa. Aber in den vergangenen Tagen ist die Zahl der nachgewiesenen Infektionen explodiert. Fast 300 waren es am Tag des Spieles – der höchste Wert überhaupt in Ungarn seit Beginn der Pandemie. Eine Reihe Regierungspolitiker, darunter Justizministerin Judit Varga, sind in Quarantäne, Regierungssprecher István Hollik und der Europaabgeordnete László Trócsányi wurden positiv getestet.
Um die offensichtlich beginnende zweite Welle der Epidemie einzudämmen, schloss Ungarn am 1. September die Grenzen für alle Ausländer.Ausnahmen sind nur Diplomaten, Angestellte von Unternehmen in Ungarn, Studenten an ungarischen Universitäten und Pendler im kleinen Grenzverkehr. Aber der Schulunterricht begann am Montag normal, allerdings mit Hygiene-Auflagen. Den Schulen ist es freigestellt, aus einer Auswahl von Empfehlungen der Regierung jene Maßnahmen zu ergreifen, die sie für die eigne Schule geeignet erachten. Die Budapester ELTE-Universität hat schon entschieden: Kein physischer Unterricht, alle Kurse laufen digital.
Volle Stadien in Orbáns Sinne
Aber volle Fußballstadien, das geht. Daran mag Ministerpräsident Viktor Orbán Gefallen finden. Er ist Vollblut-Fußballfan und war einst Stürmer im Team seines Heimatortes Felcsút. Dort entstand nach seinem Aufstieg zum Regierungschef ein prächtiges, eher überdimensioniertes Stadion und – noch bevor er Regierungschef wurde – eine internationale Fußballakademie. Felcsút (1812 Einwohner im Jahr 2015) stieg mit so viel Rückenwind in Ungarns Erste Liga auf.
Auch in anderen Ländern wird darüber nachgedacht, Fußballspiele wieder vor Publikum abzuhalten, mit entsprechenden Sicherheitsregeln. Die gelten theoretisch auch in Ungarn. Kanzleramtsminister Gergely Gulyás erklärte, es müsse ein Mindestabstand von eineinhalb Metern eingehalten werden, immer ein Sitz Zwischenraum. Und weil, so Gulyás, in den Stadien kein Alkohol ausgeschenkt werden darf, sei die Einhaltung der Regeln ein geringeres Problem als beispielsweise bei Musik-Festivals, die verboten bleiben – wie alle Veranstaltung mit mehr als 500 Teilnehmern – außer Fußball.
Doch ein Alkoholausschank
Im Stadion herrscht dichtes Gedränge vor dem Ausschank, sicher mehr als 100 Fans warten auf ihr Bier. Alkoholverbot? Das gilt nur für Spirituosen. Bis fünf Prozent Alkoholgehalt ist erlaubt. Mindestabstand auf den Zuschauertribünen? Keine Spur. Jeder sitzt, wo er will, nicht unbedingt auf dem Platz, der auf dem Ticket angegeben ist. Debrecen-Fan Ádám Végvári macht sich aber keine besonderen Sorgen. Gut, dass wieder vor Zuschauern gespielt werden kann, sagt er: „Ich mag die Stimmung in Stadion.“
Die Stimmung ist sicher auch besser, wenn man ein Festival besuchen kann, statt Konzerte im Internet zu verfolgen. Aber das bleibt verboten. In Zeitungskommentaren und Sozialen Medien herrscht kein Mangel an witzigen Vorschlägen, wie das Problem zu lösen sei. Musiker könnten ja in den Stadien die beliebtesten Fan-Chöre musikalisch untermalen, kommentiert András Ferentzi in der Boulevard-Zeitung „Blikk“. Etwa den Fan-Evergreen „Eine Brille für den Schiedsrichter!“
Eine Brille braucht offenbar vor allem der Debrecener Torwart, der einen kraftlosen Ball ohne Not ins eigene Netz boxt. Ungarische Medien werden die Aktion „Eigentor des Jahres“ nennen. „Auf-waaaa-cheeeen“ brüllen die Fans. Eigentor und Weckruf – vielleicht ein Sinnbild für Ungarns volle Stadien in der Coronavirus-Krise. Ausgerechnet Orbáns Heimatverein Felcsút musste bisher alle Spiele absagen, weil mehrere Spieler infiziert sind.
Boris Kálnoky aus Budapest