Zehntausende Weißrussen, die gegen den Staatschef protestieren, landesweite Streiks, doch Lukaschenko fährt weiter die Krallen aus und lässt Demokratieverfechter verhaften. Was kommt da noch?
Uladzislau IVANOU: Ich fürchte, dass er wie ein in die Ecke gedrängtes Tier noch wilder wird. Was ich aber auch fürchte, ist die Gefahr im Hintergrund: Russland. Russland und China haben die Wahl in Belarus sofort anerkannt. Sie füttern das Regime weiter durch. Der russische Machtfaktor darf nicht unterschätzt werden.
Lukaschenko ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert an der Macht: Was war ausschlaggebend, dass die Bevölkerung das jetzt nicht mehr hinnimmt?
Die Unzufriedenheit ist ein Prozess, der sich seit der Wahl 2010, bei der es auch massiven Wahlbetrug gab, kontinuierlich verstärkt hat. Dazugekommen ist die schlechte Wirtschaftslage, die mittlerweile fast die ganze Bevölkerung spürt. Der Westen greift Belarus wirtschaftlich relativ wenig unter die Arme, Russland hat in den vergangenen Jahren auch aufgehört, die Wirtschaft zu stützen. China war noch das einzige Land, das in Belarus investiert hat.
Wie sieht es mit der Arbeitslosigkeit aus?
Die liegt offiziell bei zwei, drei Prozent, aber wie viele tatsächlich arbeitslos sind, weiß man nicht, weil in einem totalitären Staat sozialwissenschaftliche Studien nie öffentlich werden. Ich bin jetzt 42 Jahre alt und habe 26 davon unter Lukaschenko verbracht. Es gibt diesen Topos von der Lost Generation in Belarus: Menschen, die ihr Potenzial im Land nie verwirklichen konnten. Deshalb sind auch viele weg. Aber damit ging auch viel intellektuelles Potenzial im Land verloren.
Wann sind Sie fort?
Das war 2010. Es gab ja auch damals schon massive Repressionen im Zug der Wahl. Man hat mich dann auch eingesperrt. Ich bin ja auch ein Gay-Aktivist, und das hat man als Haftgrund genommen. Ich bin dann drei Tage im Gefängnis gesessen, danach habe ich mir gesagt: Es reicht! Ich möchte in diesem Staat nicht mehr leben und habe das Land verlassen. Ich lebe in Litauen, in Vilnius, im Exil.
Selbst weißrussische Universitäten leben im Exil: 2005 ist die European Humanities University von Weißrussland, wo sie 2004 aus politischen Gründen geschlossen wurde, nach Vilnius übersiedelt. Dort wird die EHU als Exiluniversität geführt. Sie unterrichten noch dort?
Ja, das war mein Glück, dass man mir angeboten hat, dort zu arbeiten.
Haben Sie Angst um Ihre Familie in Weißrussland?
Meine Mutter und Cousins und Cousinen sind auch auf Demonstrationen gegangen. Meine Mutter haben die Sicherheitskräfte aber nicht angerührt, weil sie schon alt ist, aber Cousins und Cousinen wurden verhaftet. In der Zwischenzeit sind sie aber wieder zu Hause.
Was erzählt Ihre Familie von der aktuellen Situation im Land?
Dass so viele Menschen aus allen Schichten demonstrieren. Dass meine Mutter vorne dabei ist, erstaunt mich nicht, sie ist ein durch und durch politischer Mensch. Wie ich. Meine Cousinen und Cousins waren das bisher nicht. Aber auch sie haben nach einem Vierteljahrhundert genug von Lukaschenko und seinen Repressionen.
Stimmt der Eindruck, dass es keine zentral gesteuerte Protestbewegung in Belarus gibt, sondern nur Gruppen, die sich da und dort zusammenschließen?
Ja, es sind lauter kleinere Gruppen, die zu einer großen Bewegung angewachsen sind. Lukaschenko hat immer darauf geachtet, dass Widerstand nur vereinzelt bleibt und hat Personen, die das Zeug gehabt hätten, eine Opposition aufzubauen, ins Gefängnis geworfen, sodass wir es jetzt mit einer Revolution ohne Revolutionäre zu tun haben.
Was ist mit Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja?
Sie ist keine Galionsfigur im klassischen Sinn, aber sie ist in diese Rolle hineingeraten, und sie macht es gut. Ich empfinde es als ausgleichende Gerechtigkeit, dass es vor allem Frauen sind, die Lukaschenko so zusetzen. Auch bei den Protesten spielen die Frauen in Weiß, mit Blumen in der Hand, die Rolle eines Katalysators. Lukaschenko hat so oft erklärt, dass Frauen im politischen Leben in Belarus keine Rolle spielen. Er hat Frauen als Dummerchen hingestellt, und er hat sie erniedrigt. Vielleicht kriegt er jetzt dafür die Rechnung präsentiert.
Was machen Sie, wenn Lukaschenko weg ist?
Ich gehe zurück nach Hause.