Im Flugzeug wurde Alexei Nawalny schlecht, er begann zu schwitzen, bat seine Pressesprecherin Kira Jarmysch um ein Taschentuch. Man bot ihm Wasser an, er lehnte ab, sagte, er müsse auf die Toilette gehen. Dort verlor er das Bewusstsein. Der russische Oppositionspolitiker ist auf einer Reise durch Sibirien möglicherweise vergiftet worden. Er wurde nach einer Notlandung in Omsk auf eine Intensivstation gebracht und lag im Koma. Ein leitender Arzt sagte später, man sei damit beschäftigt, sein Leben zu retten.
Sein Zustand sei schwierig, aber stabil. Der Arzt wollte sich nicht auf eine Vergiftung als Ursache festlegen. Dagegen twitterte Jarmysch: „Alexei ist mit etwas vergiftet worden, das man ihm in den Tee geschüttet hat. Das ist das einzige, was er am Morgen getrunken hat.“ Oppositionelle und unabhängige Medien glauben an einen politisch motivierten Giftanschlag. Nawalny, Moskauer Rechtsanwalt, Blogger und nationalliberaler Politiker ist der wohl einflussreichste Regimegegner. Die von ihm gegründete „Stiftung zur Korruptionsbekämpfung“ ermittelt seit 2011 gegen Korruption im Staatsapparat, Nawalny organisierte 2017 eine landesweite Welle von Protesten, der 1,88-Mann gilt als rotes Tuch für den Kreml. Dreimal verurteilten ihn russische Gerichte wegen angeblicher Wirtschaftsdelikte zu Bewährungsstrafen. Es gilt als offenes Geheimnis, dass diese Urteile dazu dienen, um seine Kandidatur bei Präsidentschaftswahlen unmöglich zu machen.
2019 geriet der 44-Jährige mit schweren allergischen Symptomen aus einer Arrestzelle in ein Moskauer Krankenhaus, seine Mitstreiter sprachen von einer Vergiftung. Jetzt gilt ein Giftanschlag in liberalen Moskauer Kreisen als sicher. „Man kann sich schwer vorzustellen, dass hinter dem gesundheitlichen Absturz eines gesunden, sportlichen und aus gutem Grund vorsichtigen Mannes, etwas anderes steht, als ein Verbrechen“, sagt der Menschenrechtler Sergei Dawidis. „Bei der totalen staatlichen Kontrolle, unter der Nawalny steht, ist es auch schwer vorstellbar, dass das jemand ohne Unterstützung des Staates gelungen ist.“
Nichts, außer Tee
Laut Jarmysch hatte Nawalny nichts zu sich genommen, außer einer Tasse schwarzen Tees in einem Tomsker Flughafencafé. Tatsächlich wäre es ohne genaue Informationen über Nawalnys Reiseroute und ohne freien Zugang zur Küche kaum möglich gewesen, etwas in diesen Tee zu schütten. Nawalny wollte nach Besuchen in Nowosibirsk und Tomsk nach Moskau zurückkehren. Wie das Portal „tayga.info“ schreibt, traf er in Sibirien Mitarbeiter seiner örtlichen Stäbe, in Nowosibirsk soll er dazu Material für neue Enthüllungen über Parlamentarier gesammelt haben. Laut Jarmysch wurden er und seine Begleiter in Nowosibirsk demonstrativ beschattet, in Tomsk dagegen nicht. In den Nowosibirsk und Tomsk finden Mitte September Kommunal- und Regionalwahlen statt, ebenso in 18 anderen Teilen Russlands. Auch unabhängige Kandidaten, die von Nawalny unterstützt werden, nehmen teil.
Jarmysch glaubt, Nawalnys Vergiftung stehe im Zusammenhang mit diesen Wahlen. „Nawalnys Vergiftung ist keine Rache“, schreibt auch der oppositionelle Schriftsteller Viktor Schenderowitsch, „sondern Zweckmäßigkeit.“ Die Machthaber im Kreml wollten ihren Widersacher vor den Wahlen ausschalten, um Massenproteste wie zuletzt in Chabarowsk zu vermeiden.
Kreml wünscht "schnelle Genesung"
Kremlsprecher Dmitri Peskow dagegen versicherte, er wünsche Nawalny eine möglichst schnelle Genesung „wie jedem Bürger unseres Landes“. Sollte sich die Vergiftung bestätigen, würde die Rechtsschutzorgane Ermittlungen aufnehmen. „Es ist keinesfalls sicher, dass Wladimir Putin den Befehl gegeben hat, Nawalny zu vergiften“, sagt Menschenrechtler Dawidis. „Aber es ist durchaus möglich, dass eine staatsnahe Figur oder Korporation beschlossen hat, gründlich mit ihm abzurechnen und damit beim Kreml Verdienstpunkte zu sammeln.“
Es gibt viele einflussreiche Russen, die etwas gegen den Korruptionsenthüller haben könnten. Seine Stiftung veröffentlichte Berichte über Schmiergeldaffären diverser Kabinettsmitglieder, Putin-Vertrauter oder Topbeamter. Dem Unternehmer Jewgeni Prigoschin warf er Unterschlagungen bei der Verpflegung von Schulkinder vor, Prigoschin beschimpfte ihn Ende Juli: „Nawalny, du kriechst vor den Feinden Russlands und führst ihre abscheulichen Aufträge aus.“
Nawalnys Hausarzt Jaroslaw Aschichmin sagte, man wolle den Patienten so schnell wie möglich in ein anderes Krankenhaus bringen, verhandelte mit Kliniken in Hannover und Straßburg. Peskow versicherte prompt, der Kreml werde einen Transport ins Ausland nach Kräften unterstützen, wenn es entsprechende Bitten gebe.